- Politik
- Für Nietzsche als Denker, gegen Nietzsche als Klassiker
Jünger des Dionysos
I.
Nietzsche starb vor einhundert Jahren, und seit einhundert Jahren hält seine Wirkung unvermindert an. Diese Wirkung streut weit, weiter als Philosophie sonst gewöhnlich reicht. Zu seinen frühen Lesern gehörte vermutlich Gavrilo Princip, der Attentäter auf den österreichischen Thronfolger, und vielleicht auch Lenin in seiner Züricher Zeit. Eine Lesart bildet die frühe jüdische Aneignung Nietzsches. 1900 verstand Martin Buber Nietzsche als «Propheten der Immanenz» und als Denker einer werdenden Gottheit, an deren Verwirklichung man nunmehr mitarbeiten könne.
Der Erste Weltkrieg stand in ideologischer Hinsicht vielfach gänzlich im Zeichen Nietzsches. Ein englischer Verleger sprach von einem «Euro-Nietzschean war». Die Intellektuellen in den Ländern der Alliierten - unter ihnen Thomas Hardy und Romain Rolland - kritisierten Nietzsche im Kontext der ersten großen Weltkatastrophe. In den USA wurde während des Krieges Henry Louis Mencken sogar verhaftet, der als erster ein Buch über Nietzsche in den Vereinigten Staaten ver fasst hatte. Man beschuldigte ihn, Agent «des deutschen Monsters Nietzky» zu sein. Im Urteil des Engländers William Ar eher war der gesamte Krieg ein Krieg gegen Nietzsche. In Deutschland wurde Nietzsches Also sprach Zarathustra nicht nur von 150 000 Soldaten im Tornister mitgeführt. 1916 erschien bei Kröner in Leipzig das preiswerte Büchlein Die Nationen und ihre Philosophie. Ein Kapitel zürn Weltkrieg. Verfasser war der berühmte Psychologe und Philosoph Wilhelm Wundt. Es ist bis heute zu wenig bekannt, dass dieses Büchlein Nietzsche als Gestalt erst hervorbrachte, die philosophischen Idealismus, Nationalismus und Imperialismus miteinander verbindet. Aus der Sicht von Wundt nämlich waren damals Frankreich und England ruhmsüchtige Egoisten, während Deutschland sich idealistisch verhielt und in einer «Hingabe an das Ganze» Krieg führte. Nun lag damals der philosophische Idealismus bereits 100 Jahre zurück. Deutschland brauchte einen neuen Namen, der seinen Krieg als Erfüllung eines neuen Idealismus mit Glanz zu umgeben vermochte. Dieser neue Name war Nietzsche. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg breitete sich in Italien und in Deutschland eine zweite Welle politischer Nietzsche-Aneignung aus: die faschistische.
II.
Inzwischen ist Nietzsche als philosophischer Klassiker etabliert. Das Weimar seines Sterbeortes verschmilzt mit dem Weimar der Altklassiker Goethe, Schiller, Herder. Klassiker sein ist riskant. Man lebt im kollektiven Gedächtnis, wird jedoch individuell nicht mehr erlebt. Es kann allerdings im Jahre 2000 nicht entschieden werden, ob der 100. Todestag dieses Philosophen am Ende auch der effektive Todestag seines Denkens ist.
Klassiker haben immer Recht. Darum lässt man sie nicht zu Wort kommen. Wenn Nietzsche tatsächlich zu einem Klassiker würde, genau dann würden alle Fragen nach seinen philosophischen Motiven und nach dem faschistischen Missbrauch seiner Texte zu Scheinfragen und Schemproblemen mutieren.
Nietzsche war jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht tot. Philosophisch wiederentdeckt wurde er von Jaspers, Heidegger und den französischen Linksnietzscheanern Blanchot, Foucault, Deleuze und Guattari, Lyotard, Derrida und vielen anderen. Wie auch immer ihr Nietzsche-Verständnis ausfiel, sie hinterlassen uns zwei große Fragen und die noch immer begründete Hoffnung, dass sie zu neuen Antworten führen. Jene Philosophen des 20. Jahrhunderts könnten uns dabei helfen, dass Nietzsche im 21. Jahrhundert nicht als Klassiker verstaubt. Die beiden Fragen lauten: Worin bestand eigentlich Nietzsches philosophische Motivation? Und: Trieben die Faschisten Missbrauch mit ihm?
III.
Nietzsche hat sich Mühe gegeben, seine philosophische Motivation für sich selbst und für seine Leser zu klären. Früh bereits taucht ein Name auf, der bei Nietzsche als eine Art Kürzel für das steht, was er sucht: Dionysos. Das ist nicht so zu verstehen, dass Nietzsche ständig nach historischarchäologischen Deutungen dieses rätselhaften griechischen Gottes gesucht hätte. Er versteht ihn teilweise als Vegetationsgottheit mit periodischem Sterben und Wiederentstehen. Diese Ansicht ist nach dem Stand der heutigen Kulturanthropologie falsch. Philosophisch gesehen steht «Dionysos» für etwas, das sich bei Nietzsche im Laufe der Zeit durchaus wandelt, was jedoch in seiner philosophischen Funktion gleich bleibt. Nietzsche fand eine Philosophie vor, die seit Piaton die Er kennbarkeit des Seins behauptet hat, ohne vom Sein selbst zu erfahren, wie es beschaffen ist. Im 16. Jahrhundert hatte Montaigne die bis heute radikalste Folgerung daraus gezogen und notiert: «Wir haben keine Kommunikation mit dem Sein.»
Francis Bacon und später Kant haben trotzdem Methoden konzipiert, in denen die «Natur» verhört, gefoltert und zu Antworten auf unsere Fragen gezwungen wird. Dabei geht es jedoch nicht mehr um das Sein, sondern um die Erscheinungen der Natur. Nietzsche hat dies gewusst. Gibt es noch Möglichkeiten für eine Philosophie der Kommunikation mit dem Sein? Er war der Ansicht, dass es zumindest möglich ist, auf diese Frage nach positiven Antworten zu suchen. Eine seiner berühmt gewordenen Antworten war der von den Stoikern überlieferte Gedanke der «ewigen Wiederkehr» von allem. Nicht zufällig führt bei Nietzsche ein an jenen physikalisch allwissenden «Geist» oder «Dämon» von Laplace erinnernder «Dämon» die Möglichkeit der Wiederkehr von allem vor Augen. Das Sein in seiner wahren Beschaffenheit teilt sich hierbei dem Menschen mit. Nun räumt Nietzsche ein, dass die ewige Wiederkehr nicht notwendigerweise zutrifft. Es gibt keine Sicherheit dafür, dass wir mit dem Sein kommunizieren. Nietzsche will jedoch die Möglichkeit dazu grundsätzlich offen halten. Er philosophiert in dem Bewusstsein, dass es gleichsam eine wissende Gottheit gibt, mit der wir uns philosophisch über das, was ist, verständigen. Diese Gottheit heißt Dionysos. Er bezeichnet sich als «ich, der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos». Abweichend von der philosophischen Tradition gilt für ihn, «dass Dionysos ein Philosoph ist.»
IV.
Nietzsche sucht nach Möglichkeiten, die preisgegebene Kommunikation mit dem Sein wiederzufinden. Seiner eigenen Zeit wirft er vor, Idealen von Fortschritt und Demokratie verfallen zu sein und dabei die wesentliche Suche nach Kommunikationsmöglichkeiten mit «Dionysos» zu verfehlen. Hier entsteht eine zweite, eine politische Bühne seines Denkens. Nietzsche versucht in dieser Hinsicht die antidemokratische Staatsidee Piatons zu modernisieren. Nach dem Ende des Glaubens an einen moralischen Gott und an eine Weltvernunft sollen neue «Herren der Er de» Gott ersetzen und sich das unbedingte Vertrauen der von ihnen Beherrschten schaffen. Wie einst bei Piaton soll der von Wenigen beherrschte Staat Menschen züchten, minderwertige Nachkommen töten und das Volk beständig täuschen. Das Schreckbild Nietzsches und zuvor Piatons ist die Zerrüttung der Gemeinschaft durch den Terror einer egalitären Demokratie.
All diese Überlegungen Nietzsches blieben dieselben, auch wenn es das 20. Jahrhundert nicht gegeben hätte. Nun hat es jedoch stattgefunden. Stattgefunden hat auch eine extensive Beanspruchung Nietzsches durch den Faschismus südlich und nördlich der Alpen. Seit 1945 flammt immer wieder die Streitfrage auf, ob Nietzsche den Faschismus geistig vorbereitet hat, oder ob die Faschisten ihn für ihre Zwecke missbrauchten. Die Diskussion ist nicht auf Deutschland beschränkt, sie findet auch in Italien, in Frankreich und im angloamerikanischen Raum statt. Bereits im Nürnberger Prozess wurde Nietzsche von französischer Seite mit differenzierten Argumenten zu den Wegbereitern des Faschismus gezählt.
Kann es in dieser Situation überhaupt eine Entscheidung geben? Diese Frage liefe zumindest teilweise darauf hinaus, das Argument des «Missbrauchs» zu klären. Denn nicht ohne Grund weisen diejenigen, die Nietzsche von seinen faschistischen Freunden befreien möchten, darauf hin, dass hier nichts als Missbrauch vor liege. Was heißt es also, eine Theorie zu missbrauchen? Nietzsche hat uns dafür ein sehr plausibles Beispiel gegeben, nämlich den Missbrauch der Jesus-Botschaft durch Paulus und die spätere Kir ehe: aus einer Friedens- und Liebesbotschaft, so sah es Nietzsche, wurde das Gegenteil, eine Religion, die «Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, hasst». Verallgemeinert heißt dies: Missbrauch einer Lehre liegt immer dann vor, wenn man sich später auf die Lehre beruft und gleichzeitig dasjenige praktiziert, was mit ihr unvereinbar ist oder von ihr ausdrück lieh verworfen wurde. So würde z.B. die Jesus-Lehre missbraucht, wenn in ihrem Namen Menschen gefoltert und hingerichtet werden.
Wie steht es nun mit Nietzsches Lehren und dem, was die Faschisten taten? Sie verachteten und verhöhnten die Gleichheitsvorstellungen der parlamentarischen Demokratie und propagierten eine charismatische Alleinherrschaft. Das ist jedoch mit Nietzsche vereinbar, dem nichts menschenunwürdiger erschien als die Gleichheit von politischen Rechten und sozialen Chancen. Charismatisches Führertum wurde von Nietzsche ersehnt. Die Faschisten setzten auf Rasse und Stärke statt auf gleiche Menschenrechte. Das ist ebenfalls mit Nietzsche vereinbar, der die Kluft zwischen den Starken und Schwachen sozial und politisch vergrößern wollte. Die Faschisten verherrlichten den Vernichtungskrieg. Es gibt bei Nietzsche pazifistische Voten, aber am Ende über wiegt bei ihm der Bellizismus. So lässt er «Zarathustra» sagen: «Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.» Oder- «Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar der Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.» Die deutschen Faschisten sahen sich berechtigt zur Versklavung von Millionen Menschen, um die Rüstung zu garantieren. Zu einer Zeit, in der man sich in Europa und Nordamerika anschickte, Nutzmenschenhaltung nicht nur abzuschaffen, sondern durch internationales Recht zu ächten, wollte Nietzsche unzeitgemäß sein und forderte unmissverständlich Sklaverei. Die deutschen Faschisten haben zuerst Tuberkulöse, Geisteskranke, Krüppel, Homosexuelle, später Sinti und Roma uncl schließlich sechs Millionen Juden systematisch ermordet. Es ist absurd, Nietzsche für diesen größten Genozid der bisherigen Geschichte eine Mitschuld zuzusprechen. Hitler wurde in dem Jahr erst geboren (1889), als Nietzsche in geistige Umnachtung fiel. Er spricht sich jedoch für «die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen» aus. Es geht ihm darum, «durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen Missratener den zukünftigen Menschen zu gestalten». Auch das bestätigt die Vereinbarkeit mit dem, was die Nationalsozialisten als ihre größte Pflicht betrachteten.
Es ist also nicht erkennbar, dass die Faschisten Nietzsches Lehren missbraucht hätten. Wer den Missbrauch behauptet, müsste entweder Nietzsches mit faschistischer Praxis vereinbare Bemerkungen effektiv entkräften. Oder er müsste einen anderen Begriff von «Missbrauch» bilden. Weder das eine noch das andere ist bisher geschehen.
Nietzsches Denken dreht sich jedoch keineswegs ausschließlich um politische End- und Extremlösungen. Jenseits des politischen Nietzsche bleibt das Motiv einer Philosophie der Suche nach Möglichkeiten der Kommunikation mit dem Sein. Der Streit um Nietzsches Rolle bei der Vorbereitung des Faschismus sollte die Klärung seines zentralen Philosophie- Motivs nicht ersetzen. Zugleich könnte jener Streit im Hinblick auf die Rede vom faschistischen «Missbrauch» nunmehr werden, was er bisher zumeist nicht warversachlicht.
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