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  • Politik
  • dem Osten - damals und heute: Bernd Jäger ASSE

Erst Bodyguard bei der Love Parade und danach Kabelgräben geschippt

Die Odyssee des Potsdamer ASK-Turners nach Traineramt und »Finne auf Zeit«

  • Lesedauer: 6 Min.

Bernd Jäger (Foto: Imago) lebt heute mit seiner Familie in Ferch bei Potsdam. Der einstige Potsdamer ASK Turner, der in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag begeht, stand 1976 in der DDR- Olympiariege, die Bronze gewann. Er war vier Mal DDR-Meister (1973 und 1975 am Reck, 1974 und 1975 am Barren). Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn wurde er Cheftrainer beim ASK Potsdam, und nach der Wende war er kurzzeitig Trainer beim OSC Potsdam.

? Sie waren fast drei Jahre ein »Finne auf Zeit« und führte Jari Tanskanen bei den WM 1997 zum Titelgewinn am Reck und Jari Monkkonen bei den EM 1998 zur Silbermedaille am gleichen Gerät. Nach erfolgreicher Tätigkeit als Nationaltrainer in Finnland beendeten Sie bei den EM im vorigen Sommer in Bremen Ihre Trainertätigkeit. Wenn man aus dem EU- Land Finnland in das EU-Land Deutschland heimkehrt, dann dürfte das doch kein Problem sein, zu Hause wieder or dentlich aufgenommen zu werden. Oder?

Das hatte ich auch vermutet. Vorsichtshalber hatte ich mich schon im vorigen März nach dem traditionellen Turnier der Meister in Cottbus beim Arbeitsamt in Potsdam erkundigt, was mich nach meiner Zeit in Finnland erwartet. Man sagte mir dort, dass ich von ihnen erst betreut werden könne, wenn ich 14 Tage versicherungspflichtig erfasst worden sei.

? Was hatte das für Folgen?

Ich meldete mich bei einer Zeitfirma an und bekam als ersten Auftrag, während der Love Parade als Bodyguard zu arbeiten. Auf dem Bahnhof Rathenow hatte ich mit zwei anderen einen zweitägigen Einsatz. Die nächste Arbeit war, für ein Stromversorgungsprojekt in Geltow Kabelgräben zu schippen. Drei Wochen lang. Damit hatte ich meinen Schein fürs Ar beitsamt zur »Wiedereingliederung«. Danach habe ich mich dann daran gemacht, endlos Bewerbungen zu schreiben.

? Mit welchem Erfolg?

Ich bekam tatsächlich mehrere Angebote - allerdings nicht aus Berlin oder Brandenburg, auch nicht aus einem der anderen neuen Bundesländer. Nun hoffe ich, noch in diesem Monat einen Arbeitsvertrag unterschreiben zu können. Mehr kann ich zurzeit noch nicht sagen.

? Kommen wir auf Ihre sportliche Ver gangenheit zu sprechen: Sie haben 1974 vor den WM in Warna bei einem Länder kämpf den Jäger-Salto, einen Grätschsalto vorwärts in den Hang am Reck, das erste Mal gezeigt. War das nicht ein gewisses Risiko, dass Ihnen ein anderer diese neuartige und kreative Flugschau als WM-Uraufführung stehlen könnte?

Die Uraufführung war Mitte September 1974 beim Länderkampf gegen die Schweiz in Altstätten. Die WM fanden fünf Wochen später statt. Die Erarbeitung des Flugelements hatte mich ein gutes Jahr in Anspruch genommen, so dass nicht,zu erwarten war, dass mir ein anderer die Show hätte stehlen können.

? Von wem stammte die Idee des Jäger- Saltos, der ein neues Flug-Zeitalter im Reckturnen einleitete?

Von meinem damaligen Trainer beim ASK Potsdam, Richard Karstedt. Genau genommen stammte die Anregung von Karin Janz. Die frühere Berliner Dynamo- Turnerin hatte am Stufenbarren die Janz- Rolle kreiert und war damit 1972 Olympiasiegerin geworden. Das Problem bestand für mich damals darin, dass ich im Bodenturnen und beim Sprung sozusagen eine »Niete« war und mir deshalb ein anderes Gerät aussuchen musste, um die WM-Qualifikation zu schaffen. Das war leichter gesagt als getan, denn das Turnen in der DDR hatte einen sehr hohen Leistungsstandard. Aber mein Trainer hat mich ermuntert und auf mich eingeredet: Du bist koordinativ und am Reck begabt. Versuch doch mal ein neues Flugelement.

? Sie standen bei den WM 1974 am Barren und am Reck im Finale und gewannen mit der DDR-Riege bei den Olympischen Spielen 1976 die Bronzemedaille. Welche Erinnerungen haben Sie noch daran?

Die WM 1974 waren mein Start in der Nationalmannschaft. Und natürlich war es immer ein Traum, bei Olympia eine Medaille zu gewinnen. Dafür musste man sich auch schinden und durchkämpfen können. Mit Fun alleine, wie das heute einige glauben, geht das nicht. Am Barren verpasste ich 1974 die WM-Medaille ganz knapp, und am Reck war ich falsch beraten. Denn unmittelbar vor dem Wettkampf entschied ich mich, einen anderen Abgang zu turnen und auf den Dreifachsalto zu verzichten. Der Dreifache war nicht stabil genug. Von zehn Versuchen endeten nur sechs im Stand. Der Rückgriff auf den Doppelsalto mit ganzer Drehung aber war eine Fehlentscheidung. Ich landete auf dem Hintern - und nur auf Platz fünf.

? Der Jäger-Salto hat Sie weltberühmt gemacht, weil Sie damit das Reckturnen revolutionierten. Ist diese Erfindung für Sie das Ereignis Ihres Turnerlebens?

Natürlich macht es mich heute stolz, als »Erfinder« zu gelten. Aber inzwischen ist der Jäger Salto ein Allerweltsteil. Für meine finnischen Turner war der Jäger Salto kein Problem. Es gibt inzwischen wesentlich schwierigere Flugelemente.

? Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie als Trainer nach Finnland gingen?

Im März 1997 kam es beim Turnier der Meister in Cottbus zum engeren Kontakt zu den Finnen. Das hing damit zusammen, dass Heinz-Dieter Schulze, der frühere Trainer von Olympiasieger Roland Brückner, von 1990 bis 1991 in Finnland als Trainer gearbeitet hat. Die Finnen luden mich ein. Ich konnte mir alles vor Ort genau ansehen und mich von ihrem Leistungsniveau überzeugen. Ich habe danach gesagt, dass es durchaus möglich ist, mit dieser Riege die Olympia-Qualifikation für Sydney 2000 zu schaffen. So kam der Vertrag mit mir zustande. Er war aber zunächst auf die Zeit bis 1998 befristet.

? Lebten Sie‹fo+tah› ‹getrennt von Ihrer Familie allein in Finnland?

Ich wohnte in Jyveskylä, das ist eine Stadt etwa 300 Kilometer nördlich von Helsinki, und zwar zusammen mit meinem Sohn, der dort auch zur Schule ging. Mein Frau ist Lehrerin, an der Sportschule in Potsdam. Sie,hätte#uch mit nach Finnland kommen können, aber man gibt natürlich in so komplizierten Zeiten eine gute Arbeitsstelle als Lehrerin nicht einfach auf. Deshalb blieb sie in Potsdam.

? Warum haben die Finnen später den Vertrag mit Ihnen nicht verlängert?

Der Vertrag war eigentlich für Olympia 2000 konzipiert. Bei den WM 1999 in China haben die Finnen leider nicht gut geturnt. Das lag meiner Ansicht daran, dass sie an ihrer eigenen Aufgabenstellung gescheitert sind. Sie hatten sich sehr viel vorgenommen und dort plötzlich gesehen, dass auch die anderen sehr gut turnen können. Das hat sie offensichtlich gehemmt. Sie haben die ganze Saison über bis zu den WM ihren schlechtesten Wettkampf abgeliefert. All das führte schließlich zur vorzeitigen Trennung.

? Hat Ihr Sohn etwas von Ihrem Turntalent geerbt?

Mein Sohn hat als Sechsjähriger mit dem Turnen angefangen. Ich hatte ihn immer in die Turnhalle mitgenommen, wollte ihn aber nicht beeinflussen, unbedingt ein Turner zu werden. Er war aller dings bis zum Alter von zehn Jahren sehr gut drauf und hat in Potsdam alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Danach litt er unter einer schweren Krankheit mit den Lymphdrüsen, konnte lange Zeit keinen Sport treiben, nahm auch an Gewicht zu und verlor mehr und mehr das Interesse am Turnen. Jetzt ist er 18 und widmet sich mehr der Musik, pflegt Sprachen und wird demnächst an einem Gymnasium in Potsdam das Abitur erwerben.

Gespräch: Hans-Jürgen Zeume

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