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  • Politik
  • Rosa Luxemburg - zur Genesis eines vielzitierten Satzes

Lob der freien Gedanken

  • Helmut Seidel
  • Lesedauer: 9 Min.

Im letzten Jahrzehnt ist wohl kaum ein Satz von unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Positionen aus in zustimmender Weise mehr zitiert worden als der von Rosa Luxemburg, wonach die Freiheit immer auch die Freiheit der Andersdenkenden sei. Dass sich die PDS diesen Satz bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte zu eigen gemacht hat, ist verständlich. Weniger verständlich war das Berufen auf diesen Satz durch den Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl im Bundestag. Mehr als eine Unverschämtheit aber war es, dass sich ein DVU-Abgeordneter im sächsisch-anhaltischen Landtag ausgerechnet auf Rosa Luxemburg berief, um Freiheit für rechtsextremistisches Gedankengut zu fordern. Letztgenannte - aber leider nicht nur sie - kennen von Rosa Luxemburg offensichtlich nur diesen einen Satz. Dem ist das Hegelwort entgegenzustellen, wonach nur das Ganze, das freilich Widersprüche impliziert, das Wahre sei.

Trotzdem: Der Satz, er muss bleiben stehn! Mit ihm - und nicht nur mit ihm - steht Rosa Luxemburg in der Tradition all jener, die in der Geschichte für Gedankenfreiheit gestritten haben. Schiller, über den Franz Mehring eine Schrift verfasste, die von Rosa Luxemburg in einer interessanten Rezension gewürdigt wurde, dichtete: «Die Gedanken sind frei! Wer kann sie erraten?» Dass Denken schlechthin nicht zu unterdrücken sei, wusste schon Spinoza: Man müsse nicht nur denken können, was man will, sondern auch sagen können, was man denkt. Gedankenfreiheit wohnt nicht im stillen Kämmerlein, sondern ist immer mit dem freien Wort verbunden.

Die Forderung nach Gedankenfreiheit war in der Geschichte - auch in unserer jüngsten Geschichte - immer gegen jene gerichtet, die ein machtgeschütztes Monopol auf die «absolute Wahrheit» beanspruchten und daher das Recht zu besitzen glaubten, von der «Wahrheit» abweichende Meinungen ausgrenzen zu können. Die Geschichte ist prall gefüllt mit Beispielen, die vom intoleranten und mörderischen Umgang mit Andersdenkenden zeugen. Sie reichen vom Tod des Sokrates und den Sünden der katholischen Kirche bis zu den Brutalitäten des Faschismus und den «Säuberungen» Stalins. Die Rechtfertigungsargumente waren immer- Es geschieht dies alles nur, um die Gefahren abzuwenden, die von den «Abweichlern» ausgehen, um den Bestand des Staates, der Kirche oder der Partei zu bewahren. Dem wurde schon im 17 Jahrhundert ein anderes Argument entgegengesetzt: Nicht die Gedankenfreiheit gefährdet den Staat, es ist die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die den Bestand der Gesellschaft gefährdet. Gedankenfreiheit ist eine Bedingung für den Bestand und das Blühen eines Staates. Rosa Luxemburgs Argumentation kommt der letztgenannten These sehr nahe.

Nicht nur, und nicht einmal in erster Linie ging es Rosa Luxemburg um die Fortsetzung einer großen Tradition. In eine konkret-historische Situation eingreifendes Denken und Handeln war ihr Lebenselement. Sie wurde daher die erste, die von marxistischen Positionen aus Demokratie-Defizite der jungen Sowjetmacht der Kritik unterwarf, einer Kritik, die im Unterschied zu anderen nicht auf ihren Sturz oder auf Kapitulation zielte. Ein Kerngedanke ihrer Kritik bestand darin, dass der Sozialismus nicht «von oben» dekretiert werden kann, sondern dass er «von unten» wachsen muss. «Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Er fahrung, (...) dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen. Ist dem aber so, dann ist es klar, dass der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren lässt. Er hat zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen - gegen Eigentum etc. Das Negative, den Abbau, kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht (...). Nur Erfahrung ist im Stande, zu kor rigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmtes, schäumendes Leben ver fällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, kor rigiert selbst alle Fehlgriffe.»

Von dieser Position aus wendet sie sich gegen Einschränkungen demokratischer Freiheiten. «Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt.» Rosa Luxemburg setzte auf die Initiative der «ganzen Volksmasse», nicht aber auf Dekrete oder Parteibeschlüsse, wenn diese zur Einengung des «pulsierenden Lebens» führen. Diese Position ist später als Ausdruck einer «Spontanitätstheorie», die wesentlich in der Unterschätzung des «bewussten Elements», der «führenden Rolle der Partei» bestehen sollte, charakterisiert worden. Seltsam: Gründet man eine Kommunistische Partei Deutschlands, weil man die Rolle der Partei negiert? Allerdings unterschied sich Luxemburgs Parteiauffassung von der Lenins.

Bei allen Differenzen aber dürfen Gemeinsamkeiten nicht übersehen werden. Rosa Luxemburgs Kritik an Lenin und Trotzki ignoriert keineswegs die geschichtliche Bedeutung der Oktober-Revolution und das Wirken der Bolschewiki in ihr. Das offizielle Luxemburg-Bild in der DDR war dadurch gekennzeichnet, dass die Übereinstimmung mit Lenin hervor gehoben, ihre Differenzen mit ihm aber kritisiert oder ganz verschwiegen wurden. Es gibt Anlass darauf hinzuweisen, dass wir in die gleiche Einseitigkeit - nur mit umgekehrten Vorzeichen - verfallen wür den, wenn wir nur die Differenzen in Augenschein nehmen würden. Allerdings hat das Scheitern des sozialistischen Experiments in Russland die frühe Kritik Rosa Luxemburgs aus einem historischen Tatbestand zu einer höchst aktuellen Frage erhoben. In einem Brief hat zwar Rosa Luxemburg geäußert, dass sie ihre Bedenken über die Politik der Bolschewiki in wichtigen Fragen fallen gelassen habe. Der historische Verlauf selber aber hat die Berechtigung ihrer Kritik bestätigt.

Auch Sprachbilder haben ihre Geschichte. Lenin hat von Rosa Luxemburg das Bild gezeichnet, auf dem sie einerseits als.«kühner Adler», andrerseits aber als ein Huhn dargestellt wird, das in den Niederungen scharrt. Wenn damit nur gemeint wäre, dass es in ihrem Leben Höhen und Tiefen gab, dann brauchte nicht darauf eingegangen zu werden, denn das ist für das Leben jedes Menschen charak teristisch. Aus diesem Bilde aber konnte geschlossen werden - und es wurde in kanonisierter Weise vielfach gesqhlossen - dass Rosa Luxemburg in der politischen Praxis zwar adlerhaft war, in der Theorie aber doch unter die Hühner eingereiht werden müsse. Nach Stalins berüchtigtem Brief an die «Proletarskaja Revoluzia» wurde dies zum Dogma.

In der DDR fand das seinen Ausdruck in Fred Oelsners Luxemburg-Biografie, die in zwei Teile gegliedert ist. Ein kämpferisches Leben und ein falsches System. Nun kann es zwar vorkommen, dass partielles Handeln der› eigenen Theorie wider spricht, aber eine generelle Trennung von Theorie und Praxis ist ein methodisch unhaltbares Prinzip. Ich habe deshalb schon Anfang der 60er Jahre Oelsners Position der Kritik unterworfen. Oelsners Behauptung, dass Rosa Luxemburg in der Philosophie auf idealistischen Positionen stand oder Anhängerin des «mechanischen Materialismus Feuerbachs» war, ging mir absolut gegen den Strich, da ich ihre Werke immer als marxistische, also historisch-materialistische gelesen hatte. Allerdings blieb ich damals in einem ebenso falschen methodologischen Prinzip befangen, das Ernst Thälmann so for muliert hatte: «... in allen Fragen, in denen Rosa Luxemburg eine andere Auffassung als Lenin vertrat, war ihre Meinung irrig.» Materialistische Geschichtsbetrachtung aber fordert, dass Denken und Handeln einer eigenständigen Persönlichkeit - und dies war Rosa Luxemburg ohne Zweifel - aus den konkret-historischen Bedingungen ihres Lebens zu erklären sind. Das Messen an Lenin aber wurde zum Grundprinzip der sowjetischen und der DDR-Geschichtsschreibung.

Damit war ein weiteres antidialektisches Prinzip verbunden. Der Messlatte Lenin wurde Unfehlbarkeit zugeschrieben. Er hatte weiß Gott Besseres verdient, als heilig gesprochen zu werden. Die Folge davon war, dass jede grundsätzliche Diskussion beendet war. Wenn die Wahrheit als feststehende, nicht aber als im Prozess stehende gefasst wird, dann kann es nur noch Interpretationen von Dogmen geben. Wer aber auf echte Diskussion bestand, wurde als Abweichler diffamiert. Derartige «Katholisierung» widersprach der Denkweise von Rosa Luxemburg. Wir - so schrieb sie - «sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen. Wir sind auch nie Götzendiener des Sozialismus oder des Marxismus gewesen».

Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie«, so Rosa Luxemburg, »ist eben der, dass sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. >Diktatur oder Demokratie< heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky.« Die Antwort darauffällt selbstverständlich gegensätzlich aus. Rosa Luxemburg hält die Fragestellung für falsch. »Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung.« Mit diesem Satz hat sie nicht nur ihre Stellung zum Demokratie- Diktatur-Problem beschrieben, sondern in symptomatischer Weise ihre eigene Stellung in der Geschichte der Marx-Rezeption charakterisiert. Was ihr freilich die als Schimpfwörter gedachten Bezeichnungen »rote Rosa« und »Halbmenschewistin« einbrachte. »Schubfachdenken« (Bloch) legte deshalb Rosa Luxemburg in den Kasten, der links vom »Zentristen« Kautsky und rechts von Lenin stand. Diesen Schematismus betrachte ich nicht als Frucht einer historisch-materialistischen Herangehensweise. Für mich ist Rosa Luxemburg eine eigenständige Denkerin, die fest auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung steht, die den Mar xismus in Wort und Tat propagierte, ihn sowohl gegenüber der bürgerlichen Nationalökonomie als auch gegen opportunistische Anpassungsversuche in den eigenen sozialdemokratischen Reihen ver teidigte und ihn auf die jeweilig konkrethistorische Situation anzuwenden ver suchte. Und dies mit einem Engagement, dem Klugheit zur Seite stand. Das Unfehlbarkeitsprädikat hefte ich ihr allerdings nicht an.

Mag ja sein, dass ihre ökonomische Theorie nicht ohne Fehler ist, wie Ökonomen behaupten. Immerhin hat sie in der Marx‹schen Theorie ein ungelöstes Problem aufgespürt und es einer Lösung zuzuführen versucht. Allein dies zeigt schon, dass ihr Verhältnis zu Marx kein plagiatives, sondern konstruktiv-kritisches war. Es ist ja auch wahr, dass Rosa Luxemburg kein Buch über die Hegeische Philosophie verfasst hat. Aber das bedeutet nicht, dass sie von Dialektik nichts verstand. Das dialektische Denken - schrieb sie - ist keine »Gedankenschaukelei des Einerseits- Andrerseits, Zwar-Aber, Obgleich-Dennoch, Mehr-Weniger«, sondern auf Totalität gerichtet, innerhalb derer sowohl die Gegensätze als auch die Einheit von Gesetz und Erscheinung aufzuhellen sind. Kann sein, dass sie die so genannte »nationale Frage« zeitweilig unterschätzte. Dies aber war - um den Satz eines Pariser Kommunarden zu variieren - die Folge ihrer internationalistischen Vorzüge.

Wie immer dem auch sei. Diese Zeilen zielen nur darauf, eine historisch-kritische Aufarbeitung des theoretischen Er bes von Rosa Luxemburg in Gang zu bringen. Es wäre um das intellektuelle Niveau der Stiftungen, die ihren Namen tragen und der PDS nahe stehen, nicht zum besten bestellt, wenn sie Rosa nur wie eine Ikone vor sich her tragen würden.

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