- Politik
- Andrej Kurkow: Ausgrabungen und Verwandlungen
Ein seltsamer Geruch nach Zimt
Ein einziges Abenteuer ist das Leben, seit es die Sowjetunion nicht mehr gibt. Jedenfalls für Nikolai Sotnikow, der nun nicht mehr den Beruf des Geschichtslehrers ausübt, sondern nachts ein Lager mit finnischer Trockenmilch bewacht. Glaubt er jedenfalls zunächst, dass es sich um Milchpulver handelt - bis er sich etwas davon in den Kaffee tut. Als er nach einem langen Flug mit schwerem Kopf erwacht, hat er die Gefahr eines Gangsterüberfalls überstanden, doch die Banditen verlangen nun 10 000 Dollar von ihm, die er natürlich nicht hat. Kurz gesagt: Kolja tut gut daran, für einige Zeit aus Kiew zu verschwinden. Er wollte sowieso nach Kasachstan, weil er auf geheimnisvolle Weise von einem dort ver grabenen Notizbuch des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko erfahren hatte. Er hatte des Nachts (wann sonst) die Leiche eines Hobbyforschers namens Gerschowitsch ausgegraben und dessen Manukript aus dem Sarg geholt. Seitdem rochen seine Hände nach Zimt.
Nein, es gelingt nicht, diesen Roman nachzuerzählen, weil beinahe auf jeder Seite Überraschendes geschieht. Was Kolja alles erlebt, bevor er nach Kasachstan gelangt; was ihm widerfährt, als er allein durch die Wüste irrt; wie er fast umkommt, gerettet wird von einem kasachischen Nomaden, der ihm seine schöne Tochter gibt; wie Kolja und Gulja - immer noch in der Wüste - von Pjotr und Galina, zwei ukranischen Nationalisten, gefesselt werden, die ebenfalls auf Schewtschenkos Spuren sind; wie alle vier in die Gewalt von Oberst Taranenko geraten, der im Auftrag des ukrainischen Staatssicher heitsdienstes agiert; was für eine grauenvolle und beglückende Entdeckung sie machen; wie sie dabei wieder von Zimtgeruch umnebelt werden - so nachhaltig, dass sich ihre Sicht auf die Welt verändert; wie sich der kasachische Geheimdienst einmischt; wie sie mit einem Waggon voll Sand übers Kaspische Meer nach Äser
baidshan, Dagestan, durch Russland wieder in die Ukraine kommen und wider Willen zu Drogen- und Waffenschmugglern werden - all das ist so spannend, birgt so viele witzige Einfälle, dass man das Buch nicht aus der Hand legt.
Seltsamkeiten noch und noch. Und das Seltsamste: Wie gefährlich es auch mitunter aussieht, die Dinge wenden sich immer wieder zum Guten. Das muss Lesern in Kiew oder Moskau noch fantastischer erscheinen, weil es ja ihre Realität ist, von der erzählt wird. Bittere Erfahrungen, Ängste und Befürchtungen wer den weggelacht. Andrej Kurkow, wie er einem vom Buchumschlag entgegenblickt, hat Lachfalten um die Augen. 1961 in St. Petersburg geboren (falsch: es muss Leningrad heißen), hat er seit seiner Kindheit in Kiew gelebt, erfährt man. Er spricht elf Sprachen, arbeitete als Redak teur, Gefängniswärter, Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Ein bunter Vogel, wie man so sagt? Man braucht nicht lange zu lesen, um zu merken, dass er es faustdick hinter den Ohren hat.
Er meint es nämlich ernst mit seiner lustigen Geschichte, ja in der Mitte des Buches erweist er sich sogar plötzlich als Pädagoge in bester russischer Literaturtradition. »Man müßte den Unterschied ver gessen, den die Leute sich selber ausgedacht haben, um die Menschen in Unsere und Fremde einzuteilen. Der Abend ist für alle derselbe, die Natur ist dieselbe«, denkt Kolja, der in diesem Moment von Abenteuern genug und nur noch den Wunsch hat, mit seiner Gulja friedlich zusammenzuleben. Später hält Oberst Taranenko angesichts des nach Zimt riechenden kasachischen Sandes einen Vortrag über den »nationalen Geist«, der auf Menschen beliebiger Nationalität wirke und in ihnen die besten Gefühle weckt. »Der nationale Geist lehrt uns, die Vertreter aller Nationen zu lieben, und nicht nur die eigenen.« Ein Tabubruch angesichts herr sehender Nationalismen. Einheit von Patriotismus und Internationalismus - die sowjetische Formel in neuem Gewand?
Was für Momente geradlinig erscheint, wird allerdings immer wieder ironisch gebrochen. Auch hat es nicht so viel mit Politik und Ideologie zu tun, was Andrej Kurkow meint: Wie durch Zaubermacht - oder durch Zimtgeruch? - verwandeln sich bei ihm die Menschen, überwinden Bosheit und stehen einander bei. Und immer wieder beginnt das mit einem naiven Vertrauen, wie es das Chamäleon zeigt, das Kolja und Gulja, die Liebenden, in der Wüste fanden und das seitdem ihr Begleiter war. Kolja nannte es nach seinem Großvater Petrowitsch. Aber es könnte auch Asra, der »Gute Engel des Todes« sein, meint ein junger Mann im Adidas-Anzug, der offensichtlich zum kasachischen Geheimdienst gehört.
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