- Politik
- »Operation Wolfram« - die Anwerbung von Berliner Facharbeitern für die SU
Die Fäden spann ein Lenin-Attentäter
Am 30. August 1918 wurde W. I. Lenin Opfer eines Attentates, als er das Moskauer Michelson-Werk ver ließ. Der Führer der Bolschewiki erlitt zwei Schussverletzungen - im Brustraum und in der linken Schulter. Die Kugel in der Schulter konnte erst im April 1922 durch den deutschen Chirurgen Borchardt entfernt werden. Die 28-jährige Anarchistin Fania Kaplan soll auf Lenin geschossen haben. Sie trug jedoch bei der Verhaftung einen Browning bei sich, aus dem kein Schuss abgefeuert worden ist. Dennoch informierte bereits fünf Tage danach, am 4. September 1918, das Regierungsblatt »Iswestija« über die Exekution der Kaplan. Es gab keine Untersuchung, keine Gerichtsverhandlung. Kaplans Selbstbezichtigung genügte. Dessen ungeachtet hielt sich jahrzehntelang die schöne Geschichte, Lenin habe gefordert, der Attentäterin das Leben zu schenken, damit sie sehe, wie Sowjetrussland erblühe.
Je intensiver in den letzten Jahren nachgeforscht wurde, um so klarer ist, dass Kaplan nicht auf Lenin geschossen, aber den eigentlichen Attentäter bis zu ihrem Tode gedeckt hat. Eine Schlüsselfigur in dem bis heute noch nicht gänzlich aufgeklärten Fall ist ein Mann namens Grigori Semjonow (1891 1937). Mit dessen Geschichte beginnt ein jüngst in Moskau er schienenes Buch von Sergej Shurawlow.
Mit kriminalistischem Spürsinn, gestützt auf Recherchen in diversen Archiven in Russland, Deutschland und den USA sowie Zeitzeugenbefragungen, hat der junge Forscher von der Russischen Akademie der Wissenschaften bislang unbekannte Berührungspunkte zwischen der Biografie Semjonows und den Lebensgeschichten von Berliner Arbeiter familien untersucht, die vor über 70 Jahren in die Sowjetunion gereist sind.
Semjonow, zur Zeit des zaristischen Russlands in Verbannung und danach in Emigration in Frankreich, wo er als Elek triker bei verschiedenen Firmen in Nizza und Marseille arbeitete, war am Vorabend der russischen Revolution in die Heimat zurückgekehrt. 1917 gehört er dem Petrograder Arbeiter und Soldatenrat an. Nach der Oktoberrevolution wird er Mitglied des ZK der Partei der Sozialrevolutionäre sowie von deren Militärausschuss. Auf seinen Vorschlag hin kommt es zur Bildung einer so genannten »Kampfgruppe« (bojewoj otrjad), die auch von ihm geleitet wird. Jahre später, in den Fängen des NKWD wird er zugeben, damals zu der Auffassung gelangt zu sein, dass Terror akte »gegen die Führer der Sowjetmacht die Sowjetregierung erschüttern und einen Umsturz beschleunigen« würden. Ganz oben auf der »Abschussliste« seiner terroristischen Gruppe standen Lenin und Trotzki. Erstes Attentatsopfer wird am 20 Juni 1918 der Volkskommissar Wolodarski.
Nach dem misslungenen Attentat auf Lenin wird auch Semjonow verhaftet. In Haft wird der Saulus zum Paulus, erlebt seinen eigenen Worten zufolge »einen tiefgreifenden inneren Wandlungsprozess«. Nach neun Monaten Gefängnis setzt sich der Bolschewik Jenukidse für ihn ein. Semjonow kommt nicht nur frei, sondern wird Mitglied der bolschewistischen Partei. Per Geheimbeschluss des Org.-BüroscLer Russischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki, RKP/B) wird er gemeinsam mit seiner Frau Natalja Bogdanowa im Januar 1921 aufgenommen; Bürgen sind Jenukidse, Krestinski und Serebrjakow, allesamt Spitzenfunktionäre der Bolschewiki. Semjonow arbeitet für den militärischen Geheimdienst der Roten Armee und in speziellen Fällen auch für die Tscheka. Er gehört weiterhin den Sozialrevolutionären an - bis diese ihn 1921 »wegen Verletzung der Parteiethik« ausschließen; offenbar ist seine Doppelmitgliedschaft durchgesickert. Semjonow nimmt sodann aktiv an der Vorbereitung des Verbots seiner früheren Partei teil. Im November 1922 schließlich wird er als Inspekteur beim Chef der Hauptverwaltung Elektroindustrie beim Volkswirtschaftsrat eingesetzt.
Am 7 September 1923 verlangt nun ein von Molotow unterzeichneter Brief, Semjonow »unverzüglich, noch heute« dem ZK der RKP (B) zur Verfügung zu stellen. Im höchsten und geheimem Auftrag fährt der nunmehrige Offizier des militärischen Nachrichtendienstes nach Berlin, wo einer seiner ehemaligen Parteibürgen, Krestinski, die Sowjetmacht als Botschafter vertritt. Und noch ein anderer macht sich auf den Weg in die deutsche Hauptstadt: Nikolai Bulganin. Der spätere Ver teidigungsminister und Regierungschef der UdSSR war ein Mann Feliks Dzier zynskis, des Begründers der Tscheka, die sich mittlerweile in GPU umbenannt hatte. Auch Bulganin war 1922 in die Elektroindustrie abkommandiert worden und wur de erster Direktor des neu entstehenden Großunternehmens GET.
Der Elektroindustrie kam in den Anfangsjahren Sowjetrusslands besondere Bedeutung zu. Erinnert sei hier nur an die Formel »Sowjetmacht + Elektrifizierung = Kommunismus«. Glühbirnen sollten Licht in jede Bauernkate, Elektrizität die Wirtschaft des Landes in Schwung bringen. Dem Geheimnis der Wolframfäden sollten Semjonow, Bulganin und ihre Mitstreiter in Berlin auf die Spur kommen. »Operation Wolfram« war das erste große internationale Unternehmen der Sowjetmacht, das ab 1925 direkt von Dzierzynski geleitet wurde und de facto Industriespionage, zugleich jedoch weit mehr war. Es sollten Fachkräfte angeworben werden.
Shurawlow verfolgt den Weg von 300 Berliner Arbeitern, vor allem aus den Werken von AEG, Siemens, Osram, die mit ihren Familien in die Sowjetunion kamen. Er schildert deren Erfahrungen mit der Sowjetmacht, im Guten, wie im Bösen.
Der Schlosser Julius Hoffmann, SPD- Mitglied seit 1900 und 1919 Mitbegründer der KPD Politischer Leiter der KPD in Berlin-Lichtenberg, sowie der Mechaniker Emil Deibel, seit 1923 in der KPD und einer der ersten, zu denen Semjonow Kontakt in Berlin suchte, lieferten im Rahmen der »Operation Wolfram« wichtige technologische Informationen nach Moskau, bevor sie dann auch persönlich gen Osten aufbrachen, um ihre reichen Berufserfahrungen in den Aufbau der erstrebten neuen, ausbeutungsfreien sozialistischen Gesellschaft einzubringen. Ebenso wie der Dreher bei Osram Willi Koch und sein Ar beitskollege Franz Heisler oder der Werk zeugmacher bei AEG Hans Olrich, mit denen sich Bulganin selbst in Berlin getroffen hatte. Hoffmann, Deibel, Koch und Heisler wurden veranlasse nach ihrer Übersiedlung und der Arbeitsaufnahme im Moskauer Elektrosawod 1925/26 ihre Namen zu ändern; für deren ehemaligen deutschen Arbeitgeber sollte sich die Spur verlieren. Aus Koch wurde so Schmor- die begriffliche Nähe von »kochen« und »schmoren« stand dabei wohl Pate. Dzierzynski selbst veranlasste die Ausstellung der notwendigen Papiere, einschließlich der Parteiausweise.
Ein Problem tauchte auf, als die deutsche Sektion des Exekutivkomitees (EKKI) der Komintern in den plötzlich aus Berlin unter neuen Namen in Moskau auftauchenden Genossen »Spione« und »Deser teure« vermutete. Die Verwaltung Aufklärung der Roten Armee musste in einem speziellen Schriftstück am 13. April 1925 bestätigen, dass diese »außerordentlich wichtig« seien und sie deshalb ohne vor herige Genehmigung des ZK der KPD ins Land kamen - »durch uns aufgefordert«.
Den ersten und für die Sowjetmacht besonders wichtigen Fachleuten folgten weitere große Gruppen Berliner Fachar beiter. Verabschiedet wurden sie von ihren Genossen auf dem damaligen Schlesischen Bahnhof im Berliner Osten, wie z. B. die siebenköpfige Berliner Familie Huth, mit einer Schalmeienkap‹elle und dem Gesang der »Internationale«
Shurawlow beschreibt detailliert den Alltag deutscher Facharbeiter in Moskau, berichtet über die vielen Neuerervor schlage, die von deutschen Arbeitern gemacht wurden (von allen 1932 gemachten stammten allein 40 Prozent von ihnen), gibt Auskunft über Löhne und Schwierigkeiten mit den vorgefundenen Wohn- und Verpflegungszuständen. Geschildert wird auch, wie viele ins Land gerufene Fachar beiter schließlich in die Mühlen Stalinscher Repressalien gerieten, so Willi Koch und die Familie Huth; von den Huths überlebte nur der jüngste Sohn Karl den »Großen Terror«. Die Frau von Willi Koch, Anastasja, wandte sich zur Befreiung ihres Mannes aus den Händen des NKWD, wie die GPU jetzt hieß, an Bulganin per sönlich. Dieser reichte ihren mehrseitigen Brief kommentarlos an das NKWD weiter. Er half dem Berliner Arbeiter, den er nach Moskau geholt hatte, nicht.
In Ungnade fiel auch Semjonow. Vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts gesteht er 1937 dass er das Attentat auf Lenin und Wolodarski vorbereitet hatte. Noch im selben Jahr wird er er schössen.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!
In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!