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  • Politik
  • Christoph Bauer: »Jetzt stillen wir unseren Hunger«

Leben im Kopf

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Schluss, so schlüssig er dem Verstand im Nachhinein erscheint, irritiert das Gefühl. Aber wie hätte Christoph Bauer seinen Roman denn enden lassen sollen? Hätte Jewgeni Onegin - dieses Beispiel kam mir beim Lesen in den Sinn - in Tatjana die Geistesverwandte er kannt, seine Bestimmung, wie man so sagt, und sie geehelicht, wäre Puschkins berühmtes Werk zum Kitsch verkommen. Und irgendwie scheint der Ich-Erzähler Tom Weinreich ja ein ferner Nachfahre Onegins zu sein, dieses «überflüssigen Menschen», wie ihn die Literaturwissenschaft definierte. Klug, ja überklug fast, hat Tom sich selber aus dem Wissenschaftsbetrieb herauskatapultiert und lässt sich nun als «Privatgelehrter» und Taxifahrer, Junggeselle natürlich, vom Leben treiben. Mit ausgedehnten Spazier gangen und Gedankenspielen überlistet er die Langeweile; ein bisschen sarkastisch ist er, weltverdrossen, doch nur in Gedanken aggressiv. Ein Kopfmensch in entfremdeter Welt. Seine Sehnsucht, seine Rettung: Wirklich lieben zu können, «als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt». Als Onegin zu dieser Erkenntnis kommt, ist es für ihn und Tatjana bekanntlich zu spät. Aber von Puschkin ist in diesem Roman auch nicht die Rede, sondern von Tschechow. Weil sich die Frau, der Tom auf einem seiner Spaziergänge begegnet, Mascha nennt nach der Gestalt aus Tschechows «Möwe», obwohl sie gar nicht so heißt. Denn alles sei bei ihr wie bei Tschechow gewesen, hat sie eines Tages begriffen, als sich ihr Kostja (in Wirk lichkeit hieß er Karl) umgebracht hatte.

Verrückt? Vielleicht. Für einen kurzen Moment kommt Tom der Gedanke, die Frau, die ihn da anspricht, könnte eine ausgeboxte Patientin aus dem gegenüber liegenden Krankenhaus sein. Aber bald schon fühlt er sich im Gespräch mit ihr so wohl, dass ihm Maschas Herkunft egal ist.

Der Roman besteht fast ausschließlich aus diesem Gespräch, das von Tom in der Nacht, während Mascha in seinem Studierzimmer schläft, minutiös aufgezeichnet wird. Euphorisch und unter dem Einfluss von Wein. Redundanz bis zur Geschwätzigkeit - einem eiligen Leser mag es Mühe bereiten, sich darauf einzulassen. Vielleicht war es ja sogar des Autors Absicht, üblichen Kommunikationsweisen entgegenzusteuern, die Information und Sensation, aber kaum menschliches Miteinander möglich machen. Dem gegenüber wird in diesem Buch etwas im Leben Seltenes vorgeführt: Zwei Menschen, die im Gespräch einander zuhören, die wirk lieh aufeinander eingehen, sensibel die Gefühle des Anderen wahrnehmen und einander stützen. Es ist so, wie es Normalität sein müsste, wie es aber die Ausnahme ist. Ein Weg, der die zwei ins Paradies führen könnte, wo der Autor sie, wie gesagt, aus Gründen der Kunsträson nicht ankommen lassen darf.

Es gibt viele kluge Bemerkungen im Roman - über das Leben, die Kunst, das menschliche Miteinander. Sie war früher, bevor sie aus Kummer über Karls Tod, sich vom Denken verabschiedete und ihr Ich verlor (wie sie sagt), Theater und Literaturkritikerin. Er hat - wie der Autor übrigens auch (Christoph Bauer wurde 1957 in München geboren, lebt in Berlin und veröffentlichte hiermit seinen ersten Roman) - Informationswissenschaft und Philosophie studiert. Sein Forschungsthema: das Bewusstsein, das Selbst und das Ich. Bewusstsein als Selbstbeschreibung, ja Selbsterzeugung - darum geht es auch im Roman. Kunstwirklichkeit er wächst hier auch aus Theorie, was dem Leser von vornherein entsprechendes Interesse abverlangt. Wir werden Zeuge, wie durch die «Verfertigung der Gedanken beim Reden», so wird Kleist zitiert, nicht nur eine Beziehung sich herstellt, sondern zwei Menschen gleichsam sich und und den Anderen erschaffen. Das Problem ist nur - mit diesem Argument hatte Tom früher in Seminaren gerne die Erkenntnistheoretiker in Verlegenheit gebracht: «neurophysiologisch sei eine Halluzination von einer tatsächlichen Wahrnehmung nicht zu unterscheiden».

Es sei doch gleich, wo sich das Leben abspielt, ob nur im Kopf oder tatsächlich und wirklich, meint Mascha. «Hauptsache, es gefällt uns.» In diesem leicht hingesagten Satz steckt die Grundfrage der Philosophie und eine ganze Weltsicht - eine heute verbreitete. Etwas wird simuliert, und alle sind damit einverstanden. Man übersättigt sich mit Genüssen, aber der Hunger bleibt.

«Jetzt stillen wir unseren Hunger» - eine Utopie? «Am schönsten ist es, sagte ich, wenn man auf geistesverwandte Menschen trifft, mit denen man zusammen die Welt beobachten und ausschmücken kann, es ist ein großes Vergnügen, zusammen mit einem anderen Menschen die Welt nach seinen Wünschen zu beschreiben.» West-Berliner Fotograf im Osten: Was er 1992 in Dresden erlebte, hat Andre Kirchner in dem Band «Dresdner Kampagne» in Bild und Text festgehalten. Beobachtungen und Reflexionen angesichts einer Umbruchssituation, die irritieren muss (Verlag der Kunst, 215 S., geb., 54 DM).

Fast 800-jährige Stadt an der Warnow- «Rostock» - der Journalist Wolfgang Grahl und der Fotograf Rene Legrand haben die sich rasant verändernde und dabei traditionsreiche Stadt für dieses Bändchen neu erkundet (Hinstorff, 64 S., brosch.,9,90DM).

A rchitektur aus deutscher Zeit im heu- /\tigen Kaliningrad: «Königsberg» - der Architekt Baidur Köster legte eine Bestandsaufnahme aller wesentlichen Gebäude vor, die den Krieg überstanden haben (Husum Verlag, 256 S., geb., 69 DM).

Kühle Oasen der Ruhe: «Neue Ideen für schattige Gärten» - in Wort und Bild geben Heidi Howcroft und Gudrun Lehneis Anregungen für eigene Gestaltungen (Callwey, 128 S., geb., 69,90 DM).

Erfreulich grotesk: «Gänse-

Stripshow» - die Abgründe des Daseins in Cartoons von Martin Perscheid (Lappan, 64 S., geb., 22 DM).

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