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Ehemaliger SED-Chef möchte Oberbürgermeister werden

Kandidat betrachtet Wahl als Prüfstein für Umgang mit DDR-Vergangenheit Wittenberg Von Hendrik Lasch, Magdeburg

  • Lesedauer: 5 Min.

Kehren in Wittenberg die alten Zeiten zurück? Nein, meint Horst Dübner Dass ein ehemaliger 1. Sekretär der SED- Kreisleitung das Rathaus erobern will, sei ein Schritt zur Normalität.

Ist das eine Wahlkampfreise?», fragt der gastgebende Unternehmer den Ministerpräsidenten. «Nein, nein», wehrt Reinhard Höppner (SPD) ab, die Visite in dem mittelständischen Wittenberger Chemiebetrieb sei seit Jahren geplant gewesen. Trotzdem nimmt Eckard Naumann, der Rathauschef in der Luther Stadt, die Gelegenheit natürlich gern wahr, an der Seite seines prominenten Parteifreunds gesehen zu werden. In wenigen Tagen ist Wahl in Wittenberg, und dass Naumann seinen Amtssessel verteidigen kann, gilt noch keinesfalls als ausgemacht.

Elf Jahre regiert der Mann, der sich selbst als Mitgestalter der Wende in Wittenberg bezeichnet, in dem prunkvollen Renaissancebau mitten auf dem weitläufigen Markt. Einen Großteil seiner bisherigen Amtszeit galt die historienträchtige Stadt als sozialdemokratische Hochburg. Doch während Friedrich Schorlemmer, einer der bekanntesten ostdeutschen Sozialdemokraten, aus den .Räumen der Evangelischen Akademie im Wittenberger Schloss noch immer seine streitbaren Thesen verbreitet; während Kritiker in den Machtpositionen der Stadt gelegentlich einen «SPD-Filz» auszumachen meinen, haben Schorlemmers Genossen ihre Vormachtstellung bei den Stadtratswahlen im Jahr 1999 eingebüßt. Mit 13 Mandaten sind sie nur noch geringfügig stär ker als die zehnköpfige PDS-Fraktion. Mit Abstand stärkste Kraft ist mit 21 Stadträten die CDU

Und auch Bürgermeister Naumann ist in der Stadt nicht unumstritten. Zwar sind unter seiner Verantwortung Häuser und Höfe in der historischen und größtenteils als Fußgängerzone ausgewiesenen Innenstadt mustergültig saniert worden, und anlässlich der Expo wurde nicht nur der modern gestaltete Bahnhofsvorplatz kühn überdacht. Doch in der Stadt werden Naumann gelegentlich mangelnde Entscheidungsfreude und fehlendes Durchsetzungsvermögen in der Verwaltung zur Last gelegt. Nach so langer Amtszeit falle es vielleicht schwerer zu begeistern, räumt der eher zurückhaltend und nachdenklich wirkende Amtsinhaber ein.

Fassbarer sind die Vorwürfe, Naumann habe den Bau der 1994 in Betrieb gegangenen und stark überdimensionierten Kläranlage zu verantworten - ein Schuh freilich, den sich der Verwaltungschef nicht anziehen will. Die nicht ausgelasteten Becken seien «ein Infrastrukturvorteil, der sich derzeit leider als Nachteil dar stellt», sagt Naumann den über hohe Gebühren verärgerten Mittelständlern: «Wir haben freie Kapazitäten für neues Gewer be.» So werde jedenfalls in der Partner Stadt Springfield/Ohio mit dem gleichen Thema umgegangen. PDS und CDU klagen dagegen unisono über hohe Abgabenlasten und finanzielle Risiken für die Stadt - was Sozialdemokraten zu der These bewog, in Wittenberg feiere die «Nationale Front» fröhliche Urständ.

Auch bei der jetzigen OB-Wahl in der Stadt der Reformation wird eine Rückkehr zu unheiligen alten Zeiten beschworen. Das liegt nicht an etwaigen Wahlbündnissen - alle großen Parteien treten mit eigenen Kandidaten an. Derjenige der PDS freilich war in Wittenberg schon einmal in verantwortungsvoller Position: Horst Dübner amtierte ab 1986 als 1. Sekretär der SED-Kreisleitung. Zwar sei er damals mit dem Anspruch eines Reformers angetreten und habe alte Rituale abgeschafft, erinnern sich kritische Beobachter. Später aber habe er Gefallen an der Macht gefunden - und bis heute behalten.

Dass Dübner elf Jahre nach der Wende OB werden will, ist nach Ansicht vieler Kritiker ein Tabubruch - und zwar ein noch größerer als die mögliche Kandidatur Wolfgang Berghofers in Dresden. Zwar hat eine Zeitung beide mit Ostprodukten verglichen: Jahrelang leicht schamhaft im Regal versteckt, jetzt der Renner der Saison. Doch während Berghofer lieber als glänzendes Westprodukt in Erscheinung treten möchte und jeden Anschein von PDS-Nähe vermeidet, macht Dübner kein Hehl aus seiner Vergangenheit. Er werde denn auch als «wandelnde Mahnung vor der Rückkehr des SED-Regimes» betrachtet, weiß der frühere Kreischef, der sich aber eine differenzierte Betrachtung der Vergangenheit zugute hält: «Für Fehler habe ich mich ‹entschuldigt. Mein Angebot, über alle damaligen Entscheidungen zu reden, steht.»

Zur Begründung seiner Kandidatur führt er denn auch eher Meriten an, die er sich nach 1990 erworben hat - etwa als Geschäftsführer einer Sanierungsgesellschaft, die Kasernen der sowjetischen Streitkräfte zu Eigentumswohnungen umbaute, Anerkennung dafür, sagt der 53-Jährige, habe er von vielen Seiten er halten. Nützlich dürften derlei Erfahrungen in Wittenberg künftig freilich in anderer Weise werden: Die Stadt mit noch 50000 Einwohnern, in der mit dem Stickstoffwerk Piesteritz nur ein einziger größerer Betrieb übrig geblieben ist, leidet wie viele ostdeutsche Regionen unter Abwanderung und Wohnungsleerstand.

Gänzlich auf die künftigen kommunalen Geschicke will Dübner, der bei öffentlichen Auftritten demonstrativ jovial und beinahe überfreundlich auf Bürger zugeht, die Bedeutung der Wahl am 6. Mai freilich nicht beschränkt wissen: Sie sei auch ein Indiz dafür, wie mit der DDR- Vergangenheit umgegangen wird. Das Votum zähle auch für seine Partei, meint Dübner, der sich vor seiner Kandidatur die Rückendeckung von Landes- und Bundesvorstand geholt hat: «Die Wahl hat nationale Bedeutung für die PDS.» Wie es der Zufall wollte, war Wittenberg denn auch eine Station auf der Ost-Tour der PDS- Bundesvorsitzenden Gabi Zimmer. Ob die Wähler einer derartigen Argumentation etwas abgewinnen können, wird sich in einer Woche zeigen. Der letzte Kreissek retär jedenfalls übt sich in Zuversicht. «Die Letzten können die Ersten sein.»

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