»Stets das getan, was mir wichtig war«

Ein Interview-Buch mit Fragen an PDS-Politiker Bodo Ramelow. Ein Vorabdruck

  • Lesedauer: 11 Min.
Bodo Ramelow, geb. 1956 in Osterholz-Scharmbeck (Niedersachsen): Kaufmann, Ausbilder, Filialleiter, bis 1990 Sekretär Mittelhessen der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV). Danach u.a. Landesvorsitzender der Gewerkschaft HBV Thüringen. Ab 2001 Fraktionsvorsitzender der PDS im Thüringer Landtag. Jetzt stellvertretender Fraktionsvorsitzender der »Linkspartei« im Bundestag, verantwortlich für den Vereinigungsprozess mit der WASG. »Gläubig und Genosse - Gespräche mit Bodo Ramelow« heißt das Interview-Buch von Hans-Dieter Schütt, das am 31. Mai bei ND im Club (19 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin) Buchpremiere hat.
ND: Bodo Ramelow, kennen Sie das, was ich Ihnen jetzt vorlese? »Zwar hat er keine lange, spitze Nase, aber etwas abstehende Ohren, listig lustige Augen und zerfranste, in die Stirn gekämmte Haare.«
Ramelow: Den Anfang dieses Zitats haben Sie unterschlagen. Ich werde da nämlich mit jemandem verglichen.

Ja, der Satz davor lautet: »Wenn ich ihn sehe, muss ich an die Pinocchio-Puppe denken.«
Geschrieben hat das Landolf Scherzer, in seinem Reportage-Band »Der Letzte«, einem Porträt-Buch über Mitglieder des Thüringer Landtags, über die soziale Situation im Freistaat, über die politische Umwälzung in der Region, in den Jahren nach der Wende.

Zufrieden mit der Beschreibung?
Das mit den Augen gefiel mir.

Sind Sie sehr ehrgeizig?
Einen gewissen Ehrgeiz habe ich, der resultiert wohl schon aus meiner Kindheit. Durch bestimmte Schwierigkeiten in der Schule - ich war Legastheniker - entwickelte sich beizeiten eine bestimme Fähigkeit, dieses Defizit mit Sorgfalt, mit Ausdauer zu kompensieren.

Das heißt: Sie lernten, nicht aufzugeben, sondern dran zu bleiben an einer Sache.
Und das ist geblieben. Ich lasse nichts halbfertig liegen. Oder ich gestehe mir und anderen ein, dass es nicht geht. Alles mit Konsequenz. So oder so.

Sie kamen aus der thüringischen Landespolitik nach Berlin. Wie einst Gabi Zimmer - die nicht sehr lange PDS-Vorsitzende war.
Na, immerhin länger als mancher Vorsitzende der SPD.

Haben Sie je mit ihr über Erfahrungen in der Parteizentrale geredet?
Nein. Ich bin ja nicht als ihr Nachfolger nach Berlin gekommen. Aber ich habe eine Vermutung: Sie hatte im Karl-Liebknecht-Haus keine wirklichen Gesprächspartner. Sie ist ein Mensch, der ganz auf Vertrauen baut, und sie muss wohl das Gefühl gehabt haben, dass sie einerseits als Unangefochtene agiert, schließlich war sie die Vorsitzende, aber hinter einer unsichtbaren Wand agierte eine andere Struktur, von der sie ausgeschlossen war, und das schuf tiefe Verletzungen. Diese Art Doppelstruktur ist vielleicht spezifisch ostdeutsch ...

Ein SED-Erbe.
Ja, das kommt möglicherweise aus diesem totalitären Strukturansatz einer Staatspartei, einer Staatsmacht: Man sieht stets zu, dass man dieser Macht nicht in den Weg kommt, und wenn doch, dann ist man eher vorsichtig als ehrlich. Man sagt Nettes laut, aber Kritisches sagt man so, dass mans auch wiederum nicht gesagt hat. Ich glaube, so ist man mit Gabi Zimmer umgegangen, daher hat sie hier in Berlin, wie nirgends anders, erfahren müssen, was Einsamkeit ist - inmitten einer kleinen Welt, in der alle vor merkwürdiger Kollektivität nur so strotzen. Wahrscheinlich hat sie sich dann irgendwann auch so verhalten.

Sie sind anders. »Rammelow« stand in einer Leserzuschrift ans ND.
Ich glaube, dass man ab und zu laut sagen muss: Das ist falsch - dass wird nicht gemacht! Oder: Das wird jetzt so gemacht! Punkt. Man muss deutlich formulieren, welcher Weg zu gehen ist. Daher gelte ich bei dem einen oder anderen sicher als ruppig. Diese Ruppigkeit hat mit meinem Bedürfnis nach Klarheit zu tun.

Was sind das für Boxhandschuhe, die hier in Ihrem Büro hängen?
Das war das Symbol der Thüringer PDS, mit dem sie 2004 in den Landtagswahlkampf zog. Als ich zum Ministerpräsidenkandidaten gekürt wurde, hat man mir diese Handschuhe symbolisch überreicht und übergestreift.

Waren Sie ein rauflustiger Junge?
Ich kann mich nur an eine einzige Szene erinnern. Wie man meinem Bruder nachts in einer Jugendherberge den Hintern mit Schuhcreme einpolieren wollte, da bin ich von der oberen Bettkante gesprungen, in diesem dunklen Zimmer, weil ich den Bruder hab schreien hören. In irgendeine erstbeste Hand habe ich gebissen. Den Handrücken hat mir der Betroffene Jahre später mal gezeigt. Man konnte den Abdruck meiner Zähne noch sehen.

Glauben Sie von sich, ein mutiger Mensch zu sein?
Über Mut habe ich kaum nachgedacht. Allerdings stand ich in meinem Leben oft genug in Situationen, die alles andere als friedlich waren. Wenn du auf einer Verkehrskreuzung sitzt und die Autos blockierst, weil du damit gegen Arbeitsplatzabbau demonstrierst, wenn du erlebst, wie Autos versuchen, auf dich oder andere Streikposten neben dir zuzufahren, oder wenn du in anfahrende Fahrzeuge reingreifen musst, um die Zündschlüssel abzuziehen - dann weißt du, dass Friedfertigkeit manchmal auch ein gewisses Verhalten braucht, das ein bisschen mit Mut zu tun hat.

Sie haben jetzt dreißig Sekunden Zeit, eine Ansprache an die Welt zu halten. Worin besteht Ihre Botschaft!
So bedeutend bin ich nicht, dass ich davon ausgehen könnte, die Welt würde ausgerechnet von mir eine Botschaft erwarten. Eine besonders originelle Antwort fällt mir auch nicht ein. Das Einzige, was mich beflügelt, wäre so richtig wie langweilig: eine Botschaft des Friedens. Woran denke ich noch? Dass Emanzipation kein Auftrag an andere, sondern einer an mich selbst ist.

Was heißt das?
Vieles große Politische scheitert daran, dass Menschen kein Gespür für sich selber haben. Anstatt einzig nur sich zum Ausgangspunkt für Ethik und Moral zu nehmen, deklamieren sie lauter Fremdaufträge, wollen andere missionieren. Aber lassen wir das, es gibt schon zu viele Ansprachen, die die Welt nicht braucht - selbst wenns nur dreißig Sekunden dauern würde.

Was hat der Westmensch dem Ostmenschen voraus?
Der Westler hat einen Trainingsvorsprung in jenem Dickicht der Städte, von dem Brecht sprach, und was ich jetzt mal als Dickicht der Gesellschaftsordnung übersetze. Der Westler hat die größere Kondition im ständigen Erwarten des Feindes. In der DDR sind den Menschen wohl mehr Wege geebnet worden als in der Bundesrepublik. Die Bürgerrechtler mal ausgenommen. Aber was man im Westen für den Existenzkampf einsetzen musste, das hat die Gesellschaft bei vielen Menschen nie wieder ausgeglichen.

Ängste? Unsicherheitsgefühle? Ständige Kampfbereitschaft?
Ja. Das Risiko bei der Wohnung, das Risiko beim Arbeitsplatz, das Risiko bei der Schulausbildung. Ich weiß, wovon ich rede. Meine Kindheit begann mit Armut - obwohl die Familie mütterlicherseits aus stabilen bürgerlichen Verhältnissen kam. Aber der Zweite Weltkrieg hat die Grundlagen dieser Familie zerstört. Als Kind habe ich mir manchmal aus den leeren Kartons vom Softeisstand die Waffelreste rausgeholt. Ich weiß, was es heißt, kein Stück Wurst zu haben, für einen Groschen Kuchenrand zu kaufen. Meinen Heimatort Osterholz-Scharmbeck, direkt am Teufelsmoor gelegen, lernte ich aus der Perspektive des zugezogenen Habenichts kennen.
In der Nähe befindet sich die Künstlerkolonie Worpswede. Der Ort Heinrich Vogelers.
Er hat den Bahnhof unserer Kleinstadt entworfen. Für mich wurde Vogeler zu einem Inbegriff sozialistischer Tragik: Man wird in der Sowjetunion, gleichsam dem Vaterland der Ideale, die man hat, wegen der Treue zu diesen Idealen ermordet. Velleicht hängen erste Impulse meiner Politisierung indirekt mit Heinrich Vogeler zusammen. Mit fünfzehn etwa, da erfuhr ich viel von ihm, und seine Malerei hat in meinem Leben eine prägende Rolle gespielt. Die Moskauer Bilder. Die Sehnsucht nach dem sozialistischen Aufbruch. Die Jugendstilkultur. Die Kriegserfahrung. Die bitteren Ausgliederungen durch die KPD. Die Evakuierung mit anderen Deutschen ins sowjetische Hinterland, wo elender Hunger wartete.

Was war das für Sie - das Teufelsmoor?
Das Moor hat sein eigenes Generationen-Gesetz: der ersten Tod, der zweiten Not, der dritten Brot. Heute existiert es in dieser Form gar nicht mehr, es wurde abgebaggert und ist gleichsam zu Blumenerde gemacht worden. Ökologisch ein verheerender Vorgang.

Welche Erfahrung fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie DDR hören?
Als ich mal meinen Halbbruder im Osten auf seiner LPG besuchte, da zeigte er mir stolz den Kuhstall und auch eine Anlage, in der Milch gekühlt wurde. In der Hydraulik war eine Stelle undicht, Öl tropfte. Man weiß doch, dass ein einziger Tropfen Hydrauliköl tausend Liter Wasser verunreinigt. Ich war also ziemlich erschrocken, wie es da ununterbrochen tropfte. Du, sagte ich, das müsst ihr rasch reparieren! Da hast du absolut Recht, antwortete mein Bruder. Nur sei er leider nicht der richtige Mann, dafür sei die Brigade soundso zuständig. Ich weiter: Dann sag denen doch mal Bescheid, ihr vergiftet doch das gesamte Grundwasser, außerdem ist Hydrauliköl schweinisch teuer. Verständnisvolles Nicken meines Bruders. Abgang. Nach einem halben Jahr kam ich wieder, selbstredend tropfte es noch immer. An diesem tropfenden Öl, an dieser undichten Stelle in der Hydraulik ist die DDR zu Grunde gegangen! Die Partei hatte tausend Augen? Klasse, neunhundertneunundneunzig Augen waren zu, und eines hat Tag und Nacht beobachtet, dass ja niemand was entdeckt.

Bei einigen Linken hat man den Eindruck, sie hingen noch immer der Verelendungstheorie an; überspitzt gesagt: Warten, bis die soziale Deklassierung fortschreitet und sich umstürzlerischer Stau in Aktion verwandelt.
Die Verelendungstheorie ist mir immer auf die Nerven gegangen. Ich finde es unerträglich, sich politisch am Leid anderer Menschen aufzurichten. Ich halte nichts von einer Theorie, nach der wir draußen vor bleiben und zugucken, wie die CDU das Land ins total Unsoziale treibt - bis das Volk irgendwann aufsteht und Revolution macht. So eine Denkweise ist weltfremd. Vier Millionen haben uns bei der letzten Bundestagswahl gewählt. Nicht, weil wir kühn sozialistisch denken und wunderbar die Welt erklären können, nein, die wollen, dass wir an bestimmten konkreten Stellen helfen, eine menschlichere, eine sozialere Politik durchzusetzen.

Lebensart
Themen der Interviews: Pawlowsche Hunde im Bundestag. Die Wüste in jedem Menschen. Deserteure und ein Denkmal. Lügen um Bischofferode. Tolle Zeiten am Teufelsmoor. Schlusszeilen von Stefan Heym. Das Familientabu DDR. Gott und die Regierung. Knochenmark und Kindesliebe. Anklagen im Internet. Ost-Enttäuschung über einen Skoda. Die PDS, die WASG und Lyrik. Birkenstockschuhe und Versammlungskultur. Lothar Bisky und eine Abstimmung. Hoffnungen in der Spaßgesellschaft. Einkommen und Fortkommen. Die Idee der Genossenschaft. Flugzeuge aus Diktatblättern. Die goldene Uhr von Karstadt. Knausrige Schatzmeister. Aufnahmeanträge in der Kitteltasche. Weinbauernträume und Mehlstaub-Allergie.
Gibt es in Ihrer Familie soziale Härtefälle?
Der Bruder, der in der LPG war, ist in der DDR Invalidenrentner gewesen. Multiple Sklerose. Die LPG hat ihn noch ein bisschen beschäftigt, als Gerätewart. Operiert werden konnte er nicht, der Termin in Magdeburg war zwar schon vereinbart worden, aber es brach die Wendezeit an, die Ärzte gingen in den Westen. Als es zu einer Operation in der Charité kommen sollte, fehlten Devisen für Spezialinstrumente. Nun ist er im Pflegeheim, ein Sozialhilfeempfänger, höchste Pflegestufe, seine Frau ist eine Langzeitarbeitslose. Also, ich weiß, wie es ihnen vor der Wende ging, und was danach auf sie zukam.

Gehen Sie davon aus, bis zur Rente Politik machen zu müssen?
Einige Male in meinem Leben habe ich mich bei Wünschen ertappt, von denen ich sagte: Die erfüllst du dir, wenn du Rentner bist. Wenn so eine Art Aufschubdenken an die Bewusstseinsoberfläche drang, wusste ich, dass da was schief lief. Ich wehre mich dagegen, die Gegenwart nur zu erdulden und das wahre Leben auf die Zukunft zu projizieren. Also denke ich auch nicht ans Rentenalter - im Sinne von: Dann werde ich aber ... Und also kann ich auch Ihre Frage nicht beantworten. Ich möchte mit dem Rentenalter nicht von etwas befreit werden, das würde doch mein jetziges Leben beleidigen. Wenn ich zurückblicke, dann kann ich guten Gewissens sagen: Ich habe bisher stets getan, was mir wichtig war, und wenn etwas keinen Sinn mehr hatte, habe ich etwas anderes gemacht. Ich denke ziemlich konsequent daran, dass ich nur ein einziges, relativ kurzes Leben habe und es mir nicht leisten kann, Jahre zu verplempern.

Warum tragen Sie stets einen Brilli am Ohr?
Ich war im Konflikt mit dem Landesvorsitzenden der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen in Hessen, Mitte der achtziger Jahre. Es gab damals Anweisungen, in welcher Kleiderordnung wir aufzutreten hätten. Ich war zu solchen Disziplinierungen nicht bereit. Hin und her, her und hin. Dann gab es noch ein paar weitere Konflikte, da reichte es mir endgültig, und da hab ich mir einen Ohrstecker 'reinmachen lassen - was für einen Hauptamtlichen geradezu einer Pflichtverletzung gleichkam. Ich wurde sehr finster angeschaut. Aus dem Ohrstecker wurde irgendwann ganz bewusst ein Brilli. Es ist nur ein Schmuckstück, ohne jede andere Bedeutung. Lustig war, dass mein kleiner Sohn eines Tages das Ding bemerkte und so etwas auch haben wollte. Er hat's eine Weile getragen, bis sie ihn in der Schule hänselten. Da gab er auf.

Sie sind Christ. Was wäre, wenn Jesus Christus unerkannt ans Rednerpult des Deutschen Bundestages treten würde?
Die Frage wäre doch schon, wie er überhaupt da reinkommt!

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