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Von Antonin Dick

  • Lesedauer: 10 Min.

Schreiben eines Romans, des ersten. Warum? Und warum erst jetzt? Und noch dazu über ein so zerbrechliches Thema wie das einer jüdischen Kindheit? Weil - so die erste vorsichtige Antwort - die Risse tief sitzen, die damals, als ich Kind war, mich mir selbst auf so unerklär liehe Weise zu entfremden trachteten. Es waren nicht meine persönlichen Risse, es waren die Risse, die das zerstörte Berlin durchzogen - gedankliche, sprachliche, politische und militärische Grenzen.

Das Thema verfolgt mich, zumal es mit einem unauflösbaren Erbe beschwert ist, denn das, was man Familie nennt, habe ich nie kennen gelernt. Der Großteil meiner Familie wurde in deutschen Konzentrationslagern ermordet. Ein anderer Teil gilt als verschollen. Seit Jahren suche ich über das Internationale Rote Kreuz nach lebendigen Zeichen menschlicher Zusammengehörigkeit. Bisher ergebnislos. Ich selbst kam 1941, kurz nach Beginn von Hitlers Raubkriegen, in der englischen Emigrantenstadt Royal Leamington Spa/County Warwickshire zur Welt. Dorthin waren meine Eltern aus Nazideutschland via London-Hampstead geflüchtet. Mein Vater, ein tschechischer Wider Standskämpfer, arbeitete als Elek troschweißer in einer der Rüstungsschmieden der British Army, in Coventry, eine halbe Bahnstunde von unserem Wohnort entfernt. Coventry wurde von den deutschen Bombern in Schutt und Asche gelegt. Das Nazidrohwort «coventrieren» entsprang diesem Verbrechen. Im DDR-Duden von 1978 steht unter dem Stichwort «Coventry»: «durch hitlerfaschist. Luftangriffe fast völlig zer störte Stadt in Mittelengland.» Im BRD- Duden von 1983 steht unter dem Stichwort «Coventry» lediglich: «Stadt in England.» Ich bin versucht, diese semantische Bereinigung «Coventrieren» zu nennen. Auch auf Leamington warfen sie Bomben, oder sie überflogen es, um Coventry zu er reichen. Meine Eltern mussten in die Keller hinabeilen, ich im Arm meiner Mutter. Bomberlärm und Fliegeralarm suchen mich heute noch des Nachts in meinen Träumen heim. Jedes Mal, wenn auf der Straße die Sirenen aufheulen, verfalle ich in unerklärliche, furchtbare Panikzustände. Ein ganzer Frequenzbereich in meinem Gehör ist «coventriert» worden. Es gibt kein Leben ohne Angst mehr für mich. Meine Mutter, eine deutsche Jüdin, gründete 1941 in Royal Leamington Spa die Ortsgruppe der FREE GERMAN LEAGUE OF CULTURE IN GREAT BRITAIN, einer von deutschen Emigranten gegründeten Vereinigung zur Verteidigung der deutschen Sprache und Kultur. Der Publizist und Dichter Alfred Kerr, der Maler Schriftsteller Oskar Kokoschka, der Regisseur und Dramatiker Berthold Viertel sowie der Erzähler und Essayist Stefan Zweig waren die Gründungspräsidenten. Wie viele Nazigegner wollten meine Eltern in der DDR eine neue Gesellschaft aufbauen, und dies um so tatkräftiger, als sie aus proletarischen Verhältnissen stammten. Als Exilgeborener erfuhr ich alle Förderung des neuen Staates, und dies nicht auf abstrakte, sondern auf sehr persönliche Weise, denn viele der ehemaligen Exilanten befanden sich nun in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen. Als beginnender Künstler genoss ich warmherzige Hilfe und erhellenden Zuspruch von allen Seiten - z. B. von den Exilschriftstellern Johannes Nohl und Dora Wentscher, vom exilierten bildenden Künstler John Heartfield, vom exilierten Theaterregisseur Maxim Valentin. Der Intendant des Deutschen Theaters Berlin Wolfgang Heinz, der die Traditionen der Exiltheaterleute des legendären Züricher Schauspielhauses fortzuführen suchte, holte mich als Dramaturg an sein Haus. All diese Heimgekehrten indessen lebten trotz gesellschaftlicher Anerkennung auch gleichzeitig außerhalb, exilartig. Sie waren Überlebende. Immer war da dieses Schutzbedürfnis, das sie fest miteinander verknüpfte: ein Netz unterirdischer Lebensadern im Massiv der DDR-Gesellschaft. Ungeachtet der Ulbrichtschen Appelle an die Kosmopoliten, sie mögen doch das Schreiben von Exilliteratur einstellen und sich dem Neuen zuwenden, wurde weiter über das Exil geschrieben, weiter über das Exil erzählt, weiter über das Exil geschwiegen. Über allem schwebte eine Melancholie. Ich konnte sie nachempfinden, aber nicht leben. Mich zerrissen mehr und mehr die neuen Widersprüche der neuen Gesellschaft. Heimlich, gegen die Zumutungen der erfundenen Sprache des Neuen, schrieb ich Gedichte. Ich brauchte lange, um den Widersinn der Geschichte zu begreifen, der darin bestand, dass je mehr der neue Staat daranging, die sozialistischen Visionen - die Träume der Emigranten - zu verwirklichen, desto weniger blieb von ihnen übrig. Aber das war gar kein Widersinn, es war das Gesetz der Geschichte.

Ab Mitte der siebziger Jahre brach die Heimlichkeit wie eine reife Blüte auf: erst wissenschaftlich, dann künstlerisch, schließlich politisch. Es begann mit einer Verteidigung einer Doktorarbeit im Jahre 1976. Vier Jahre lang hatte ich im Rahmen einer planmäßigen wissenschaftlichen Aspirantur an der Berliner Humboldt-Universität zur Theorie des amerikanischen Soziologen George Caspar Homans forschen dürfen und war, ohne dass ich dies beabsichtigt hätte, unversehens in einen offenen Konflikt mit der offiziösen DDR-Soziologie geraten, weil ich den Leitgedanken der Homansschen Soziologie - das individuelle Glücksverlangen - sowie seine originäre wissenschaftliche Leistung - die Überführung soziologischer Grundaussagen in mathematische Größengleichungen - zu verteidigen wagte. Beides übrigens in voller Übereinstimmung mit Marx. Die Niederschlagung dieser Arbeit im Promotionsverfahren, fast schon eine beschlossene Sache höchster Dienststellen der Partei, verhinderte der Philosoph Hermann Ley, mein wissenschaftlicher Betreuer, der seine schützende Hand über meine Arbeit hielt. Als Kommunist, der einstmals von den Nazis ins Gefängnis geworfen wurde, war er unangreifbar. Seine Kontrahenten hingegen waren zu jener Zeit Angehörige der von Hitler erzogenen Jugend, die sich nun anheischig machten, in die Schlüsselpositionen der sozialistischen Gesellschaft aufzurücken. Ende der siebziger Jahre war dieser janusköpfige Prozess des Nachrückens im Wesentlichen abgeschlossen. Die DDR-Gesellschaft war eine andere gewor den. Genau in diese Zeit fällt meine Einsetzung als Künstlerischer Leiter des Ar beitertheaters des Kabelwerkes Ober spree Berlin, einer Partnereinrichtung des Deutschen Theaters. Der Theatermann und Schriftsteller Wolfgang Langhoff, ein aktiver Nazigegner und Exilant, hatte in den fünfziger Jahren als erster Intendant des Deutschen Theaters den Kooperationsvertrag unterschrieben. Als ich das Arbeitertheater übernahm, war ich gezwungen, es aus der Umklammerung der Kulturfunktionäre zu lösen. Erst dann konnten wir künstlerisch arbeiten. So entstand ein autonomes Ensemble junger Künstler, das sich Schritt für Schritt befähigte, sich kritisch mit dem real existierenden Sozialismus auseinanderzusetzen. Anfang der achtziger Jahre, als sich auch in der DDR neonazistische Strömungen auszubreiten begannen, schlug ich vor, ein Stück über die Geschwister Scholl zu entwickeln. Die Nachgerückten unter sagten mir das Projekt. Im Jahre 1982, auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die atomaren Mittelstreckenraketen in Ost und West, inszenierte ich ein Antikriegsprogramm. Trotz überwältigender Resonanz unter den Zuschauern wurde die Inszenierung nach nur fünf Aufführungen liquidiert. Berufsverbot wegen Verbreitung von Pazifismus und ständige Repressalien waren die Folge. Mein Status als Emigrantenkind bewahrte mich vor Schlimmerem. Vier Jahre später stellte ich meinen Ausreiseantrag. An den Tischen der Ausreisebehörden saßen mir die Nachgerückten gegenüber. Im Sommer 1987 gründete ich zusammen mit einem anderen Regisseur die ARBEITSGRUPPE STAATSBÜRGERSCHAFTSRECHT DER

DDR, die sich für das Recht auf Ausreise stark machte, eine oppositionelle Vereinigung, die sich in den Folgemonaten zu einer der wirkungsvollsten Bürgerrechtsgruppen der DDR entwickeln und schließlich bei den Protesten anlässlich der Liebknecht-Luxemburg-Gedenkdemonstration im Januar 1988 den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichen sollte. Die Segnungen einer hedonistisch ausgerichteten Besatzerdemokratie, die ich ab Oktober 1987 im Westen genießen durfte, kontrastierten auf bizarre Weise mit dem Ver such von Westlinken, mich wegen des Weggangs aus der DDR der Häresie zu zeihen. Es war zwecklos, ihnen zu erklären, was mit mir passiert war, dass ich nämlich nicht von Deutschland Ost nach Deutschland West, sondern von Deutschland Ost in den Britischen Sektor von Groß-Berlin übergesiedelt war. Ich hatte nichts anderes getan, als meine Herkunft behauptet: England, das rettende Exil. Doch in Bezug auf den Stellenmarkt erstarb selbst das Gespräch, weil die linken Westtheaterleute, die um die bessere Ausbildung in der DDR wussten, mich sofort als ihren Konkurrenten um die knappen Stellen betrachteten.

Dann kam die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands, der beiden auseinander gebrochenen Teile des «Reiches». Ich reagierte auf dieses Ereignis mit einer Theatergründung. Im Oktober 1991 gründete ich in Berlin das Jakob van Hoddis Theater, benannt nach dem deutsch- jüdischen Wegbereiter des Expressionismus, der von den Nazis als «Asphaltliterat» geschmäht und 1942 in einem Vernichtungslager ermordet wurde. Themen der jüdischen Existenz, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sowie Sujets des literarischen Expressionismus bilden die Schwerpunkte dieses Theaters. Die auf verschiedenen Bühnen aufgeführten Stücke - Der Tag der Städte, Ich, Susanne Salomon, Ich komme hier wieder heraus! und die Ballade vom Emigranten - kreisen um die deutsche Vergangenheit aus der Perspektive der Opfer.

Die Geschichte hat sich gedreht seit dem Abzug der Alliierten aus dem wiederver einigten Land. Wenn ich den Vielvölker bezirk Berlin-Neukölln, in dem ich jetzt wohne, verlasse, kommt es nicht selten vor, dass ich den neuen alten Rassismus zu spüren bekomme, unterschwellig oder direkt., Alltag in Deutschland. Ich habe schwarzes Haar und dunkle Augen, und mein Gesicht ist, um es klinisch zu sagen, nicht pigmentfrei. So stehe ich beispielsweise irgendwo in Berlin vor dem Ladentisch einer Bäckerei und warte geduldig, bis ich an die Reihe komme. Plötzlich schnellt der Kopf der blonden Verkäuferin, ohne einen Ton von sich zu geben, hoch und lauert in erstarrter Position auf meinen ersten Satz, als wolle sie fragen: Kannst du überhaupt Deutsch? >Da ist er wieder, der verdeckte Sprachtest<, schießt es mir durch den Kopf, >diese sprachliche Ausweiskontrolle !< Diese Art von Eröffnung einer Begegnung, ob beim Bäcker oder auf der Behörde, ist mir vertraut. Hin und wieder leiste ich verdeckten Wider stand. So auch hier, bei der Verkäuferin. Erst dehne ich ihr hochmütiges Lauern auf meinen ersten Satz, mit dem ich mich kenntlich machen soll, aus, dehne es bis zum Unerträglichen, lasse die Blonde geradezu schweben, hoch oben in ihrem unvergleichlichen Überlegenheitsgefühl, um sie dann sanft abstürzen zu lassen durch einen betont korrekt gesprochenen deutschen Satz. Fragwürdiges Reagieren? Geschichte der Gefühle in Deutschland! In der DDR gab es keinen Rassismus, wenigstens eine Zeitlang nicht. Und auf gar keinen Fall einen so mörderischen, wie man ihn dieser Tage in Gesamtdeutschland erlebt. Es ist jetzt das fünfte Deutschland, das ich erlebe. Wo steht es? Wo ich? Zwischen welchen Fernen? Welchen Nähen? Es gibt in Berlin ein Haus der Ferne und der Nähe. Ich stehe vor ihm. Ich schweige. Ein altehrwürdiges Haus mit winkligen Giebeln und hellen Fassaden, Brise von Hampstead. Wilde, hohe und ausladende Bäume umstellen es. Die Fer ne, die sich in Nähe verwandelt, und die Nähe, die sich in Ferne verwandelt. Dort stehe ich und schweige. ‹Es ist das Haus meiner ersten Kindheit in der besetzten Reichshauptstadt, Sommer 1946, Französischer Sektor von Groß-Berlin, nördlichster Zipfel, unversehrt gebliebenes Hermsdorf, eine verträumte Allee mit Kopfsteinpflaster, unweit vom malerischen S- und Güterbahnhof Berlin- Hermsdorf, nur fünf Minuten zu Fuß, Friedrichsthaler Weg, Haus Nummer 20, das Emigrantenheim für zurückgekehrte Emigranten aus den westlichen Demokratien, dort zogen wir ein, Zurückgekehrte, meine Eltern und ich.

Man müsste dorthin zurückkehren, zurück in jene offene Zeit, denke ich, fragend auf das stille Schloss meiner Kindheit schauend. Ich schweige. Wer soll antwor ten? Die Menschen, die hier ankamen mit dem Ideal, eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz zu errichten, hatten noch das, was wahrscheinlich nur gerettete Verbannte, die sich in der Stunde der Heimkehr weinend in die Arme fallen, haben: die Demut des Beginnens. Ich habe Angst vor einem sechsten Deutschland. Wohin dann? Nach England?

Die Stimme des Nachrichtensprechers dieser Tage in meinem Radio: «Der Bundesinnenminister gibt bekannt, dass im vergangenen Jahr die fremden- und ver fassungsfeindlichen Straftaten um über 60% angestiegen sind.» Ich spüre, wie angesichts dieser Entwicklungen, die ich als Bedrohung empfinde, manchmal der Gedanke an ein neues Exil in mir aufkommt. Andererseits spüre ich, wie ich mich an mein Schreiben des Romans geradezu klammere, als wolle ich mich meines jetzigen Standortes vergewissern und ihn verewigen. In solchen Augenblicken zieht es mich immer wieder zu dem geheimnisvollen Haus am Friedrichsthaler Weg. Wie angewurzelt stehe ich dann vor ihm. Ein Roman über eine jüdische Kindheit, so sage ich mir dann, über diese widerstreitenden Gefühle nachdenkend, könnte auch eine der Möglichkeiten sein, die Ursachen von Ausgrenzung und Gewalt aufzudecken. Die Beschreibung der Schneisen der Gewalt, die die undurchschaubaren Grenzen des undurchschaubaren Nachkriegsberlins in meine eigene Seele geschlagen haben, eingeschlossen. Für alle Menschen nämlich ist Kindheit, ontologisch betrachtet, ein Land, das, selbst wenn es nicht mehr sichtbar ist, die wunderbare Fähigkeit hat, die Rückkehr zu beschwören. Vielleicht sogar gerade dann. «Das Licht muß von innen kommen», schrieb Oskar Kokoschka aus dem Londoner Exil einem Freund nach der Katastrophe. Es war der 24. Dezember 1945.

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