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Der Blick zurück

Zur Seele: Erkundungen mit Schmidbauer / Lots Weib erstarrte zur Salzsäule, aber dennoch

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Jetzt schaue ich nur noch nach vorne», sagen manche und bekunden so, dass sie sich endgültig dem Club der Positivdenker angeschlossen haben. Den zweifelhaften Nutzen dieser Maxime können wir bereits an kleinen Belästigungen wie der schmutzigen Toilette entdecken, deren desolater Zustand dem nur nach vorne gerichteten Blick des letzten Benutzers entging. Gegen diese Nachlässigkeit steht an vielen Klotüren der Merkspruch: Bitte verlassen Sie diesen Ort so, wie Sie ihn vorzufinden wünschen. Das ist nicht nur die Aufforderung zum Blick zurück, sondern auch die Einbettung der goldenen Regel der Ethik in den Alltag: «Was du nicht willst, das man dir tu ...»

Nun hat die Aufforderung, nach vorne zu sehen, wie alle Merksprüche auch ihren tauglichen Sinn. Er richtet sich gegen die jammervolle, ausführliche Betrachtung all der Kränkungen und Versagungen, welche uns in der Vergangenheit das Leben schwer gemacht haben und es uns nun auch erschweren, den Blick auf die Zukunft zu richten und die nächsten Aufgaben und mit ihnen die nächsten Niederlagen anzugehen.

Wenn ich angesichts einer attraktiven Frau nur an alle Schönen denke, die mir schon einen Korb gegeben haben, werde ich wahrscheinlich keinen einzigen Schritt wagen; wenn ich vor einem Bewerbungsgespräch oder einer Prüfung daran denke, wie oft ich meine Ziele nicht erreicht habe, verschlechtern sich meine Aussichten dramatisch.

Es geht also darum, den kurzen, orientierenden Blick zurück von dem langen Blick, dem depressiven Sog zurück zu den Qualen der Vergangenheit zu unterscheiden.

Als Fahrschüler habe ich mich daran gewöhnt, jedes Mal, wenn ich einen Ort verlasse, noch einmal zurückzuschauen, ob nicht etwas liegen geblieben ist. Das hat mir und Mitreisenden schon so manchen Schal, Schirm und Hut gerettet. Ähnlich pflege ich im Hotelzimmer oder auf dem Picknickplatz, nachdem ich gepackt habe, noch einmal zurückzuschauen und wie ein Detektiv alle möglichen Verstecke zu kontrollieren. So habe ich schon einige Sockenpaare vor trister Vereinzelung bewahren können.

Dieser Blick zurück ist mit der Vermeidung des Zwischenlagers eng verwandt, das seine Anhänger in oft den ganzen Haushalt aufstörende, panische Suche nach lebenswichtigen Dingen wie dem Geldbeutel oder dem Schlüsselbund treibt. Wer nur nach vorne blickt und tut, legt ab oder lässt fallen, was ihn dabei behindert. So hinterlässt er eine Kette von Zwischenlagern, die er dann - sobald er etwas vermisst - sozusagen in umgekehrter Reihenfolge durchsuchen muss, um das Vermisste zu finden. Es gibt Extreme unter den Menschen des Zwischenlagers wie den Messie, der irgendwann den eigenen Lebensraum so sehr mit Zwischenlagern gefüllt hat, dass für ihn in der Wohnung kein Platz mehr ist. Er leidet unter einer sozusagen in die Welt der Dinge transponierten Depression, kann sich von nichts trennen, bis ihm Luft und Leben abgeschnürt werden.

Wer sich angewöhnt, zurückzuschauen, ob etwas liegen geblieben ist, wird auch den Schlüsselbund an seinen Haken hängen, die Geldbörse zurück in die Tasche stecken, die Rechnung überweisen und abheften, ehe sie in einem Stapel unerledigter Post verschwindet. Er wird das Geschirr gleich nach dem Essen spülen, abgelegte Kleider gleich zurück in den Schrank oder in die Waschmaschine räumen. Das kostet viel weniger Zeit als die Sanierung von Zwischenlagern.

Dass wir uns lieber nicht zu oft selbst über die Schulter schauen sollen, raten die Mythen. Gleich dreifach, in der Bibel, im Koran und in der außerbiblischen Überlieferung Palästinas wird die Geschichte von Lots Weib erzählt. Die Bibel nennt ihren Namen nicht. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, welche Sodom, die verfluchte Stadt der Vergewaltiger, verlassen sollten, ehe diese dem göttlichen Zorn zum Opfer fiel. Lot und seine Töchter wurden gerettet, seine Frau aber verstieß gegen das Verbot der rettenden Engel, zurückzublicken zur verfluchten, verlorenen Heimat. Sie wurde in eine Salzsäule verwandelt, die heute von Beduinen-Führern den Touristen gezeigt wird. Die Moral der Geschichte ist eindeutig: Wer vor einer Katastrophe flieht, sollte sich nicht umsehen. Er könnte stolpern oder zu Stein werden.

Die schöne Nymphe Eurydike, die Gattin des Orpheus, wurde von einer Schlange gebissen, als sie einem Vergewaltiger entfloh. Orpheus’ Gesang erweichte die Furien und die Götter der Unterwelt. Der Sänger bekam seine Eurydike zurück, unter der Bedingung, dass er sich nicht umblicken dürfe, ob sie ihm auch wirklich folge. Als er das Verbot übertrat, verlor er sie für immer. Die Moral ist hier weniger eindeutig: Vertraue den Göttern der Unterwelt? Tu, was dir gesagt wird? Oder etwa: Wer nur nach vorne blickt, kann kein Dichter werden?

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