Schwimmen gegen den Tod

Im Kino: »Die Frau, die sich traut« von Marc Rensing

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Ziemlich mutig von Regisseur Marc Rensing (geboren 1974) einen Film über eine Frau zu machen, die bald fünfzig wird. Ein Alter, in dem eine Frau keineswegs alt ist - aber Kinder kann sie nun nicht mehr bekommen. Was passiert, wenn dann doch wieder eine Blutung einsetzt, darüber hat Thomas Mann einst seine Novelle »Die Betrogene« geschrieben: ein übler Scherz der Natur. Denn was wenige Jahre zuvor noch potenzielles Leben in sich barg, ist nun ein Bote von Krankheit und Tod.

Beate (Steffi Kühnert) lebt allein mit ihren beiden erwachsenen Kindern, arbeitet in einer Großwäscherei, kümmert sich um die Enkelin, wäscht, kocht für alle - und versucht dabei zu vergessen, dass sie vor über dreißig Jahren bei den Olympischen Spielen in Moskau keine Medaille gewinnen konnte. Sie galt in der DDR als hochtalentierte Leistungsschwimmerin. Natürlich, das weiß sie, ist das eine zweifelhafte Karriere, und vielleicht war es gut, dass sie so abrupt beendet war, als sie mit siebzehn schwanger wurde. Sie versucht, nicht daran zu denken, aber dann findet die Enkelin die Blechscheiben im Schuppen, und sie soll ihr erklären, was das denn sei, Medaillen? Sie weiß es selbst nicht so recht - sie war zu jung damals. Und dann kommt der Befund, die Blutungen haben Gebärmutterhalskrebs als Ursache.

Ein Schock, die selbstlose Existenz für ihre Kinder, der öde Beruf - und doch könnte dies bald alles für sie gewesen sein. Und da erwacht das bislang ungelebte Leben mit aller Unbedingtheit in ihr, die Sehnsüchte, die so gründlich unter Pflicht und Alltag begraben schienen, sind alle wieder da. Operation, Bestrahlung, Chemotherapie - das kann warten. So lange sie noch Kraft hat, will sie anfangen, einen Traum verwirklichen: einmal durch den Ärmelkanal von Dover nach Calais schwimmen - 33 Kilometer! Das ist sie sich schuldig mit ihrem ungestillten Ehrgeiz, das soll ihr nachgeholtes Olympia werden - nein, es ist mehr: intensivster Existenzbeweis, der ihr - für Augenblicke - die Jugend zurückgibt.

Das klingt nun verdächtig nach sentimentaler Geschichte - und auch der unglücklich gewählte Filmtitel könnte derartige Vorbehalte bestätigen. Aber nein, es ist großartig, auf beglückende Weise verstörend, ganz und gar der Film der Steffi Kühnert! Sie nimmt die Geschichte mit solcher Fraglosigkeit als eigene an, mitsamt all den unbeantwortbaren Fragen nach Zukunft, mitsamt den Augenblicken, da aus Zweifel pure Verzweiflung wird - so dass jedes Klischee sofort zerbricht.

Diese große und doch auch so stille, fast im verborgenen stattfindende Reise von Beate (das ist im Film ihr ganzer Name) ist eine zu sich selbst. Eine Odyssee, die den großen Effekt ebenso wie Betroffenheitsgesten klug vermeidet und statt dessen auf Andeutungen setzt. Dass dieser Film zu einem so eindrucksvollen Porträt einer nicht mehr jungen Frau in einer schweren Existenzkrise wird, ist neben Steffi Kühnert vor allem der Kamera von Tom Fährmann zu verdanken. Wie er die Landschaften immer wieder in ihrer geradezu gefährlich mythisch schillernden Kraft zeigt, das gibt diesem Drama etwas Episches, das es über das bloße Kammerspiel hinaus hebt. Die beklemmende Enge in Beate, das Wissen um eine möglicherweise tödliche Krankheit, liegt mit der Weite vor ihren Augen in einem beständigen Kampf. Da ist die Ostsee, gleich hinter ihrem kleinen Haus. Aber bis eben ging Beate dort nicht gern hin: Das Übermaß an Wasser erinnerte sie zu sehr an das, was sie für ihr größtes Versagen, den schwersten Verlust ihres Lebens hielt.

Aber nun taucht sie täglich in das kalte grün-blau schäumende Wasser hinein, um zu trainieren. Vielleicht hat sie sich in dem Moment dazu entschieden, als sie auf dem Gang des Krankenhauses wartet und eine Patientin mit jenem Unheil verheißenden krankheitsmüden Gang an ihr vorbei schleicht, in dem keine Hoffnung mehr liegt. Eine minimale Geste nur, die Augen der Sitzenden, die der so offensichtlich Schwerkranken folgen und dann Beates Entschluss: Nein, das noch nicht!

Natürlich erinnert dieser Film an einen großen Vorgänger, an Lothar Warnekes »Die Beunruhigung« mit Christine Schorn. Und er hält diesem Vergleich stand - auch deshalb, weil Regisseur Marc Rensing distanziert protokollierend auf Beate blickt. Und Steffi Kühnert erspielt sich nun Szene für Szene den Raum, in dem sich jene große Bewährungsprobe ereignet, um die es hier geht: Wie bleibe ich (oder werde wieder) das autonom entscheidende Subjekt, in einer Situation, die mich zum bloßen Objekt machen will? Dass Beate sich dem Wasser anvertraut, zu dem sie seit dreißig Jahren ein ungutes Verhältnis der Vermeidung besitzt, ist auch der Versuch einer Klärung: Wird es mich nach soll langer Zeit wieder tragen?

So könnte man den Weg Beates auch beschreiben: sich frei schwimmen, bevor es zu spät ist. Als Darstellerin in Andreas Dresens Filmen, zuletzt in »Halt auf freier Strecke« als Frau an der Seite eines an einem Hirntumor erkrankten Mannes oder auch in Michael Hanekes »Das weiße Band«, kennt sich Steffi Kühnert mit extremen Charakteren aus und weiß, um sie glaubhaft zu spielen, muss man so minimalistisch und präzise in der Nuance wie möglich agieren - was dann noch an Emotion durchdringt, erzielt gerade deshalb eine so starke Wirkung wie hier. Ihren beiden Kindern (Christina Hecke und Steve Windolf) sagt Beate nichts von der Diagnose, aber das plötzliche Erwachen von etwas in ihrer Mutter, das sie bloß für Egoismus halten können, stürzt sie aus einer bislang gut versorgen Existenz. Auch sie müssen nun beginnen, sich um ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu kümmern - denn »Oma trainiert«, so weiß Enkelin Lara (Lene Oderich) und findet es eigentlich nicht schlecht: Ärmelkanal! In den Augen ihrer beider Kinder aber scheint Beate plötzlich verrückt geworden. Wie kann sie uns nur so im Stich lassen?! Einziger Beistand ist ihre Freundin Henni (ebenfalls voll von, wenn auch anders ausgelebter Lebensgier: Jenny Schily). Sie hütet mit Beate das Geheimnis ihrer Krankheit - und zerbricht fast an der Mitwisserschaft. Aber der unbedingte Siegeswille ihrer Freundin fasziniert sie auch.

Doch ist das Weglaufenwollen nicht vielleicht bloße Panik vor der Krankheitsdiagnose, vor dem, was doch unaufhaltsam näher kommt, eine vergebliche Flucht also? Der Gedanke liegt nahe - und es ist nun allein an Steffi Kühnert, ihn zu dementieren. Das gelingt ihr eindrucksvoll: Dies ist eben nicht Verdrängung, dies ist der ihr gemäße Gang zu einer schweren Prüfung, von der sie sehr wohl weiß, dass ihr sie niemand abnehmen kann.

Ob es Beate tatsächlich schafft, bei siebzehn Grad Wassertemperatur durch den Ärmelkanal zu schwimmen, ist am Ende nicht unerheblich, denn in ihrem wieder erwachtem Sportlerehrgeiz zeigt sich etwas überaus Kostbares: Lebenskraft.

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