Wo bitte geht’s zum Winterpalast?

»Plätze erobern, aber sie nicht halten können«: zur Zukunft von Occupy, Arabellion und Empörten

  • Mario Candeias
  • Lesedauer: 9 Min.
Die neuen Proteste haben enormes geleistet und sich doch erschöpft. Wie können die lokalen Kämpfe transnational verknüpft werden?

Ausgehend von den Impulsen der Arabellion hat seit 2011 auch in Europa und der Türkei, den USA, Chile oder Brasilien mit den »Empörten« und »Occupy Wall Street« ein transnationaler Bewegungszyklus eingesetzt, getragen von einem besser denn je ausgebildeten urbanen Prekariat. Diese erste Konjunktur der Proteste hat enormes geleistet und sich doch erschöpft. Die mit ihr verbundene gesellschaftliche Mobilisierung verpufft bzw. steht überall vor einer blockierten Transformation.

Die herrschenden Gruppen und Regierungen setzen ungerührt ihre Politik der perspektivlosen Kürzungen fort. Sie stützen sich auf ihre strukturelle, transnationale Macht. Die breiten und bunten »Ströme« zivilgesellschaftlicher Organisierung erreichen die »soliden Institutionen« der Herrschaft nicht.

Die Kampfzone ausweiten

Mario Candeias, Jahrgang 1969, ist Co-Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der studierte Politikwissenschaftler wurde 2004 über »Neoliberalismus - Hochtechnologie - Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik« promoviert und hat an der Freien Universität Berlin sowie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena gearbeitet. Candeias arbeitet am Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus mit und ist Redakteur der Zeitschriften »Das Argument« und »LuXemburg«.

Sein nebenstehender Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags aus der aktuellen Ausgabe der »LuXemburg«, die einen Blick auf die neuen Protestbewegungen wirft, ihre Entwicklung analysiert und nach Möglichkeiten transnationaler Organisierung fragt. »Die Aufgabe ist klar: die Kampfzone ausweiten! Globalisiertes Kapital und transnationalisierter Staat bedürfen einer grenzüberschreitenden Organisierung von Gegenbewegungen. Nur wie? Wie lassen sich die vielen Auseinandersetzungen über Grenzen, über Betriebe, über Klassen und Parteien hinweg verbreitern? Und mit wem? Wie lassen sich lokale Initiativen mit grenzüberschreitenden Perspektiven verschränken? Wie Kämpfe um Arbeitsverhältnisse mit den Anliegen der neuen Bewegungen verbinden? Und wo bitte, geht’s zum Winterpalast?«

Die strukturelle Schwäche der Bewegungen: »Plätze erobern, aber sie nicht halten können.« Diese Form der Organisierung konnte nicht auf Dauer gestellt werden; die zentralen Camps wurden geräumt, von New York über Madrid bis Kairo und Istanbul. In keinem Fall war damit das vorzeitige Ende der Bewegung gekommen. Angesichts der ungünstigen Bedingungen und übermächtigen Gegner wäre dies zu erwarten gewesen. Das Überraschende ist, dass sie noch existieren, überdauern, sich reorganisieren. Doch sie müssen sich strategisch reorientieren - mit Blick auf die Hauptquartiere der Macht.

Erfolgreiches Scheitern war schon immer die wichtigste Bewegungsform der Linken. Entweder weil die großen Errungenschaften in passiven Revolutionen kompromissförmig in immer entwickeltere kapitalistische Herrschafts- und Vergesellschaftungsformen integriert wurden. Oder weil vielversprechende Bewegungen und Kräfte Kämpfe verloren, gewaltsam niedergeschlagen wurden, an Dynamik einbüßten, gespalten, Teile integriert andere marginalisiert wurden - aber doch der Versuch die Einzelnen veränderte, weitergetragen wurde, sedimentierte. Erfahrungen und Unabgegoltenes werden weitergetragen, Neues wird vorbereitet.

So wie der globalisierungskritische Bewegungszyklus um den Planeten ging, den Gipfeln der Mächtigen folgend, von Seattle über Genua oder Barcelona, als Hunderttausende die Erfahrung machen konnten, Teil einer transnationalen Bewegung zu sein, wiederholt der Zyklus der neuen (Demokratie)Bewegungen unter veränderten Bedingungen eine transnationale Ansteckung, erzeugt Resonanzen in völlig verschiedenen Kontexten.

Sie folgt nicht den internationalen Verhandlungszyklen, ist selbst kaum international organisiert. Statt einer direkten transnationalen Vernetzung der Bewegungen verbreiten sich die neuen (Demokratie)Bewegungen weniger direkt, als - vor dem Hintergrund einer fortgeschrittenen Globalisierung und Krise - über transnationale Resonanzen. Die Mobilisierung basiert auf lokalen Besonderheiten, ist vor Ort oft stärker organisiert als es die globalisierungskritische Bewegung war, ist in vielen Ländern über die linken Kreise hinaus viel stärker in breiten Teilen der Bevölkerung verankert. Sie lernt transnational, verweist aufeinander, nutzt die selben Symbole und Methodologien, jeweils lokal und der Zeit angepasst. Emblematisch spiegelte sich dies in den Camps und ihren direktdemokratischen Vergesellschaftungsformen.

Beim Reden über die neuen (Demokratie)Bewegungen richtet sich der Blick jedoch allzu häufig einseitig auf die Plätze und Camps und die Geschehnisse vor Ort, den »Erscheinungsraum«. Weniger in den Blick kommt das »rhizomatische Netzwerk« bzw. das Feld lebendiger Beziehungen zwischen den Plätzen und anderen Bewegungen und Organisationen - und dann darüber hinaus das ganze Feld gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse -, welche dem Erscheinungsraum erst seine Bedeutung zuweisen, weil hier seine gesellschaftliche Wirkung (über den engen Zirkel beteiligter Personen hinaus) deutlich wird.

Organische Kooperationen ermöglichen es den neuen Bewegungen, sich »soziologisch« über ihr eigenes Milieu des Prekariats mit guter Ausbildung und »geografisch« über die urbanen Zentren hinaus auszudehnen, ihre Träger und Unterstützer auszuweiten. Als organisch bezeichne ich die Kooperationen, weil es sich nicht um die taktische oder strategische Kooperation bereits formierter Bewegungen oder Organisationen handelte, etwa mit Gewerkschaften wie in Seattle 1999.

Vielmehr engagierten sich einzelnen Teile als Teil der anderen, in einem noch offenen Konstitutions- oder Formierungsprozess einer breiten Bewegung, in dem die politische Handlungsfähigkeit aller Beteiligten potenziell gestärkt, spezifische Interessen neu verbunden und Solidarität entwickelt werden. Dies war möglich, weil neben vielen jungen Menschen als Trägern der Bewegung, zahlreiche lokale Initiativen, linke Gruppen, gewerkschaftliche Basisorganisationen von Beginn an Teil der Bewegung waren. Zugleich hat dies zur Neubelebung und Reorientierung von Organisierung geführt, von den alten linken Bewegungen, über Gewerkschaften bis zu Linksparteien. Die »Generation Tahrir« trifft auf die »Generation Seattle« sowie auf die Generation der alten »neuen sozialen Bewegungen« und der Arbeiterbewegung, die Mobilisierung geht quer durch die Generationen.

Die organischen Kooperationen lassen eine Trennung der unterschiedlichen Gruppierungen kaum noch sinnvoll erscheinen und reichen über den Kreis der Aktivisten hinaus: Für Millionen wurde die Möglichkeit des Widerstands sichtbar. Millionen, die bisher nicht politisiert waren bzw. von politischer Arbeit nichts mehr erwarteten, engagieren sich, protestieren. Dies hat eine Dynamik ausgelöst, die weniger als »neue soziale Bewegung« im schlecht-soziologisch abgrenzbaren Sinne (gegen Atomkraft oder für bessere Studienbedingungen) bezeichnet werden kann, denn als gesellschaftliche Mobilisierung.

Aufbauend auf den organischen Kooperationen in der Zeit der Platzbesetzungen konnte nach ihrer Räumung ein Strategiewechsel vorgenommen werden, der (zunächst) das Überleben und die Entwicklung der Bewegung sicherte: die Bewegung streute in die Viertel ohne zu zerstreuen. Von dort aus konnten zunächst die Mobilisierung verbreitet und konkrete Probleme angegangen werden, vom Kampf gegen Zwangsräumungen (Spanien oder USA) über den Aufbau von lebendigen Solidarnetzen für Gesundheit und Ernährung (Griechenland) und Direkthilfe bei Katastrophen (Occupy Sandy in den USA) bis hin zu Arbeitskämpfen im öffentlichen Dienst (die sogenannten Protestwellen in Spanien oder der Kampf um staatliche TV in Griechenland).

Auch in Europa sind die Kämpfe zurückgekehrt. Eine europäische Koordination fällt jedoch schwer. Zahlreiche Linksparteien haben ihre Solidarität mit Griechenland bekundet. Nicht zuletzt DIE LINKE hat sich erfolgreich darum bemüht und eine Erklärung zusammen mit Syriza verfasst. Eine gemeinsame Positionierung der Europäischen Linken steht allerdings noch aus. Zur Zeit diskutieren die linken Parteien Südeuropas gemeinsame strategische Positionen und Perspektiven. Eine Vermittlung mit den nordeuropäischen Linken ist noch weiter zu entwickeln.

Besonders dramatisch erweist sich der Zustand der Solidarität unter europäischen Gewerkschaften: Der Europäische Gewerkschaftsbund ist für eine europäische Koordination ungeeignet, zu stark sind die Eigeninteressen der Mitgliedsverbände und Gewerkschaften, zu unterschiedlich die Bedingungen in den jeweiligen Ländern. Am 14. November letzten Jahres kam es zu einem in der Geschichte des Europäischen Gewerkschaftsbunds einmaligen historischen Schritt: zu einem gemeinsamen Generalstreik in mehreren europäischen Ländern beziehungsweise zu gemeinsamen Solidaritätsaktionen. Insbesondere deutsche Gewerkschaften wie die IG Metall sind jedoch zerrissen zwischen ihrer Kritik an der neoliberalen Kürzungspolitik und den Vorteilen, die sie aufgrund ihrer Einbindung in das deutsche Krisenmanagement genießen, zulasten anderer Gruppen von Lohnabhängigen. Sie beteiligten sich praktisch kaum an den europäischen Krisenprotesten.

Doch auch die Bewegungen der Empörten und von Occupy mühen sich mit der europäischen Koordination ihrer Proteste. Ihr Kampf verbleibt meist auf nationalstaatlicher Ebene und wird nur langsam und punktuell grenzüberschreitend entwickelt. Die Kräfte sind meist zu gering. Die Lernprozesse auf dem Weg hin zu einer praktischen Solidarität sind schwierig, aber nicht ohne Aussicht auf Erfolg, wie die europäisch abgestimmten Aktionstage zum Jahrestag der Besetzung der Puerta del Sol in Madrid und Blockupy Frankfurt im Mai 2012 gezeigt haben. Sie umfassen auch die Kooperation zwischen neuen (Demokratie-)Bewegungen, »neu-alten« sozialen Bewegungen, Linksparteien und Gewerkschaften. Auf unzähligen kleinen und größeren Treffen wird sich über Widersprüche und Probleme, Thematisierungsweisen und Strategien ausgetauscht, ob in Florenz 10+10, dem AlterSummit in Athen, den diversen Agora-Treffen oder anlässlich gemeinsamer Aktionstage, Konferenzen und Workshops.

Was könnten Verdichtungspunkte einer transnationalen Organisierung sein? Die Eröffnung des neuen EZB-Hochhauses im Jahr 2014 und die entsprechende Neuauflage der Blockupy-Proteste in Frankfurt können eine wichtige symbolische Bedeutung entfalten. Wichtiger noch als das Ereignis kann der Prozess ihrer Organisierung zugleich als regelmäßiger transnationaler Austausch über gemeinsame Strategien und Aktionen dienen.

Die Orientierung auf nationale und europäische Schuldenaudits und verfassungsgebende Prozesse von unten steht weiter auf der Tagesordnung bei relevanten Teilen der Bewegung, konnte bislang jedoch nicht die gewünschte Dynamik entfalten. So wichtig diese Themen sind, so sehr drehen sich die Leidenschaften der Vielen eher um die alltagsnahen Kämpfe eines prekären Lebens, um die individuelle und soziale Reproduktion: Gesundheit, Ausbildung, Ernährung und Wohnen.

Wie können die lokalen Kämpfe transnational verknüpft werden? Mit gemeinsamen Aktionstagen ist ein Anfang gemacht. Eine europäische Bürgerinitiative (EBI) gegen Zwangsräumung und Vertreibung wäre möglicherweise eine unterstützende Initiative vor den Europawahlen. Die erste EBI gegen die Privatisierung der Wasserversorgung war erfolgreich und erzwang, dass sich die Kommission mit den Forderungen auseinandersetzen muss. Sofern eine solche Initiative nicht mit der Bewegung an sich verwechselt wird, sondern diese begleitet, mit ihr organisch verbunden ist, kann dies ein wichtiges mobilisierendes Moment entwickeln.

Zur Zeit planen die Gewerkschaften des DGB mit europäischen Schwesterorganisationen, eine EBI zur Realisierung des Marschall-Plans für Europa anzustoßen. Wäre dies begleitet von einem Prozess der Organisierung einer Debatte innerhalb des EGB, mit den jeweiligen Gewerkschaften bis hin zu den betreffenden Regionen in den Krisenländern, die den Plan mit konkreten Ideen für seine Umsetzung vor Ort ergänzen, kann dies eine sinnvolle Kampagne werden. Andernfalls bleibe es nur ein isolierter Versuch zur Durchsetzung einer spezifischen Einzelforderung.

Jeder konkrete Einzelerfolg ist zwar individuell bedeutsam, verpufft jedoch wenn er nicht zugleich die Handlungsfähigkeit der Vielen und der Organisationsmacht der Bewegung stärkt - um dann auch die Hauptquartiere der transnationalen Macht in Europa anzuvisieren. Ein transnationaler, diagonal vermittelter, verfassungsgebender Prozess von unten wäre ein wichtiger Verdichtungspunkt eines konstituierenden Prozesses. Zuvor braucht es jedoch auch auf europäischer Ebene eines de-konstituierenden Prozesses, einen effektiven Bruch. Dieser ist unmittelbar auf transnationaler Ebene nicht zu erwarten.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die transnationale Organisierung ist wünschenswert, möglicherweise wird sie aber erst durch ein Ereignis ermöglicht, gar hervorgebracht, dass in nur einem Land einen effektiven Bruch erzeugt, etwa einer Linksregierung in Griechenland, die die Kürzungspolitiken der Troika zurückweist, Neuverhandlungen und einen Schuldenschnitt erzwingt, Kapitalverkehrskontrollen einführt etc.

Doch stellt sich diese Perspektive bislang realistisch nur in Griechenland. Und die Herrschenden tun alles, um eine solche Position zu isolieren. Angesichts des möglichen Sturzes der Regierungen in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien gewinnt ein mögliches linkes Südbündnis realistische Konturen. Solche Bündnisse würden sich nicht nur auf die linken Kräfte der Bewegungen und Parteien beziehen, sondern wären auch eine Chance für eine in Bedrängnis geratene Sozialdemokratie, sich zu erneuern. Diese Form national-transnationaler Machtveränderungen und der Infragestellung bestehender Institutionen kann verbunden mit einer breiten Mobilisierung und Organisierung in Europa Horizonte öffnen: die Hauptquartiere der transnationalisierten Macht ins Wanken zu bringen.

Die molekularen transnationalen Organisierungen von der lokalen bis zur europäischen Ebene haben dafür zumindest eine erste Grundlage geschaffen. Einen solchen Bruch gelte es mit den für die neuen Bewegungen für reale Demokratie entsprechenden, räte-artigen politischen Formen der horizontalen und diagonalen Beratung und Organisierung von den Vierteln und Regionen über die nationale bis zur europäischen Ebene in einem konstituierenden Prozess von unten zu verbinden.

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