Selbstbildnis im Märchen

Zweihundert Jahre Peter Schlemihl: Chamissos Handschrift im Faksimiledruck

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.

Aufs erste Blatt schrieb er den Titel: »W. A. Schlemiel's Abentheuer. Als Beitrag zur Lehre des Schlagschattens mitgetheilt von Adelbert von Chamisso.« Später verkürzte er ihn zu »Peter Schlemiel's Schicksale«. Das nächste Blatt versah er mit einer Zueignung für seinen Freund, den Regierungsassessor und Buchhändler Julius Eduard Hitzig. Einen idyllischen Sommer lang saß er, ein Zerrissener, im Schloss von Kunersdorf, von den turbulenten Geschehnissen des Jahres 1813 vollkommen isoliert, dazu ohne alle seine Freunde.

Die rüsteten sich gerade für den Kampf gegen Napoleon. Nur für ihn, Adelbert von Chamisso, 1781 in der Champagne geboren, gab es in diesem Krieg keinen Platz. Die Zeit, schrieb er, hatte kein Schwert für ihn. Er, der kein Franzose mehr war und noch kein Deutscher, stand abseits, verurteilt zum Nichtstun. Im Park von Kunersdorf, Gast im Haus des Grafen Itzenplitz, vertrieb er sich die Wochen, indem er seinen biologischen Interessen nachging, Kräuter sammelte und an einem Verzeichnis der Gewächse arbeitete, die auf den Gütern wuchsen. Schließlich schrieb er, um sich zu zerstreuen und die Kinder Hitzigs zu unterhalten, die Geschichte vom Peter Schlemihl, dem Mann, der seinen Schatten verkauft, damit etwas von seinem Wesen hergibt und fortan bedauert, verhöhnt und gedemütigt von all den anderen, die ihren Schatten ja noch besitzen, als ein Fremder angesehen wird. Chamisso, sagt Thomas Mann, hat es der Mit- und Nachwelt leicht gemacht, »festzustellen, daß mit dem Schlemihl er selbst gemeint ist«.

Im Jahr darauf, 1814, erschien das wundersame Märchen, herausgegeben vom befreundeten Fouqué, in Nürnberg als Buch. Es begründete den Weltruhm seines Verfassers. »Ich war so unvorsichtig«, hat Chamisso im Vorwort der ersten französischen Ausgabe erklärt, »das Manuskript einigen Freunden zu zeigen; sie waren so indiskret, es drucken zu lassen.« In hundert Jahren erschien die Geschichte, wie 1919 die »Bibliotheca Schlemihliana« ausweist, allein achtzigmal in Deutschland, Nachauflagen nicht gerechnet. Weitere vierzehn Ausgaben in deutscher Sprache kamen in England und Amerika heraus, zehn in Frankreich, vier in Russland. Dazu erschienen Übersetzungen in zwölf Sprachen. Den Text allerdings, den Chamisso in Kunersdorf schrieb, gibt es nur ein einziges Mal: in der Handschrift von 1813. Alle Drucke weichen von ihr ab.

Diese Handschrift, die Urschrift des »Schlemihl«, seit 1927 im Besitz der Berliner Staatsbibliothek, liegt jetzt in einer schönen Faksimileausgabe vor, realisiert mit Hilfe der Robert-Bosch-Stiftung und gedruckt im kleinen Findling-Verlag, der seinen Sitz in Kunersdorf hat, dort, wo es dank einer privaten Initiative seit ein paar Jahren in der Dependance des ehemaligen Schlosses eine sehenswerte Chamisso-Gedenkstätte gibt (die auch Sitz der Chamisso-Gesellschaft ist). Der großformatige Band, trotz seiner kostspieligen Herstellung erstaunlich preiswert, bringt im zweiten Teil die Transkription der Handschrift durch die Würzburger Germanistin Katrin Dennerlein sowie mehrere Aufsätze, die sich mit der Entstehung, der Überlieferung und Wirkung des »Schlemihl«, auch mit der digitalen historisch-kritischen Edition der Geschichte befassen. So viel Umsicht und Gründlichkeit ist bei Faksimiledrucken selten, und allein der bemerkenswerte Informationsreichtum verschafft der Publikation mit ihrem reizvollen Blick in die Werkstatt des Autors den besonderen Stellenwert.

Selbst Ungeübte werden, wenn sie sich in die Handschrift vertiefen, von Chamisso nicht auf allzu harte Proben gestellt. Er schrieb lateinisch, so dass man ihm meist ohne große Schwierigkeiten folgen kann. Die Blätter eng beschrieben, der breite Rand manchmal für Korrekturen genutzt. Hin und wieder gibt es Einfügungen, dazu oft Durchgestrichenes und Verbesserungen, meist zwischen die Zeilen gequetscht. Die letzten Seiten sind an den unteren Ecken durch Brandspuren beschädigt, entstanden wahrscheinlich, weil der Pfeifenraucher Chamisso, versunken in seine Arbeit, unachtsam war.

Über eine der auffälligsten Korrekturen informiert der Kommentar. Aus A. W . Schlemiel wurde am Ende Peter Schlemiel, weil Hitzig, als er das Manuskript las, unwillkürlich an August Wilhelm Schlegel dachte. »Schlegel hat wirklig mit dem unschuldigen Jungen nichts gemein«, schrieb ihm Chamisso. Und änderte vorsichtshalber den Namen.

Ein weiteres Manuskript, aufbewahrt in der Stiftung Stadtmuseum Berlin, soll demnächst online zugänglich sein. Es handelt sich um eine Abschrift von fremder Hand, die Chamisso allerdings korrigiert hat. Da lautet der Titel: »Peter Schlemiels Wundersame Geschichte«.

Peter Schlemiel's Schicksale, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso. Faksimile-Ausgabe der Handschrift. Transkription Katrin Dennerlein. Hg. von der Chamisso-Gesellschaft e. V., Findling-Verlag, 184 S., geb., 24,90 €.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal