Werbung

Ein Monument des politischen Theaters

Armand Gatti wird 90

  • Heinz Neumann-Riegner
  • Lesedauer: 3 Min.

Sein anarchistischer Vater fegt die Straßen in Monaco und die strengkatholische Mutter putzt im Ozeanographischen Museum des Fürsten, beide »Armutstouristen«, vom Schicksal an die glitzernde Traumküste gespült. Turbulente Kindheit im Barackenviertel hoch über der Casino-Welt, dann sorgt der frühreife »macaroni« Dante Sauveur Gatti in katholischen Internatsschulen für Aufregung durch seine unorthodoxen Lektürefavoriten wie Nietzsche und Rimbaud. Nach dem Abitur geht der Halbwaise - Vater Auguste stirbt 1939 bei einem Polizeieinsatz gegen Streikende - in den von Hitler-Deutschland besetzten Südwesten Frankreichs, um sich dort dem Widerstand anzuschließen.

Nach dem Krieg beginnt Gatti eine steile Karriere als Journalist, Gerichtsreporter - gelegentlich auch mit fiktiven Prozessberichten, erhält für seine Artikelserie »Sonderkorrespondent im Raubtierkäfig« die höchste französische Auszeichnung im französischen Journalismus (Prix Albert Londres 1954). Vor allem die Begegnung mit dem legendären Filmessayisten Chris Marker wird für sein Film- und Theaterschaffen entscheidend. Nach Aufenthalten in China, Nordkorea und Sibirien veröffentlicht Gatti seine letzte große Reportage: »Sibirien - 0 + unendlich«. Gleichzeitig erscheint eine Reihe von Theaterstücken. Frankreichs führender Regisseur Jean Vilar inszeniert 1959 den »Ochsenfrosch«, eine Macht-Satire mit zentralamerikanischem Hintergrund, während Gattis Macht-Analyse am Beispiel des ersten chinesischen Kaisers, »Der schwarze Fisch«, mit dem Prix Fénéon ausgezeichnet wird.

1960 dreht Gatti seinen ersten Film: »Der Verschlag«, ein Film über den kommunistisch organisierten Widerstand in einem Konzentrationslager, von dem Hans Christian Blech kurz vor seinem Tod sagen wird, dass er der wichtigste in seinem langen Schauspielerleben gewesen sei. Im Jahr darauf bekommt der Filmemacher Gatti in Kuba die Gelegenheit mit seiner surrealistischen Machtsatire »El Otro Cristobal« eine künstlerische Antwort auf die junge Revolution zu finden und erntet 1963 für Kuba in Cannes den Preis der Kritik.

Gatti ist zu diesem Zeitpunkt in der Film- und Theaterszene Frankreichs angekommen. Die in den 1950er und 1960er Jahren von den Kommunisten dominierten Gewerkschaften machen mit ihren Kulturmaßnahmen Gatti in weiten Kreisen bekannt als Repräsentanten des nachbrechtischen politischen Theaters. Sacco und Vanzetti, Justizopfer in den USA der 1920er Jahre, der Lange Marsch der Mao-Truppen, der Widerstand gegen die US-Aggression in Vietnam, der Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki, die Guerilla in Mittelamerika und der Vorabend der Mai-Revolte 1968 in Paris - das sind die Themen, die Gatti auf die Bühne bringt.

1968 setzt das von de Gaulle aufgezwungene Aufführungs-Verbot für Gattis Franco-Stück am TNP dieser Theaterkarriere ein vorläufiges Ende. Gatti geht 1969 nach Deutschland, bekommt ein DAAD-Stipendium für Berlin, wohin Francos Arm nicht reicht: Dort sind die meisten seiner Stücke schon übersetzt (Fischer und Henschel Verlag) und an großen Häusern inszeniert. 1970 dreht Gatti für den Süddeutschen Rundfunk den Film Übergang über den Ebro: Spanische »Gastarbeiter« im Untergrund großstädtischer Kanalisation. Am Staatstheater Kassel kommt 15 Jahre vor Trottas Einfühlungs-Film Gattis politisch reflektierende Sicht auf Rosa Luxemburg zur Aufführung, eine heftige Konfrontation der diversen Rosa-Perspektiven in einem bundesdeutschen Fernsehstudio.

Der Mai 1968 bringt aber eine noch wichtigere Revision in Gattis Theaterschaffen: Konsequent wie wohl kein anderer engagierter Autor verlässt Gatti in Frankreich die Theaterarbeit mit Berufsschauspielern und inszeniert in mehrmonatigen Projekten mit ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen weitere Stücke zum Spanischen Bürgerkrieg, zu Nestor Machno, zum Widerstand in Deutschland (»Rote Kapelle«), Frankreich, Guatemala, Nordirland und den USA. Soziale Randgruppen (Arbeitslose, Immigranten, Drogenabhängige, Strafgefangene) werden mit politischen Themen konfrontiert und reflektieren schreibend, graphisch und filmend ihre eigene Lebensgeschichte. Diese Arbeitsweise kennzeichnet auch Gattis letzten großen Film, gedreht 1981 mit den Jugendlichen in einem überkonfessionellen Workshop Derrys.

Die letzten 20 Jahre seines Theaterschaffens widmet Gatti der Bedeutung der modernen Mathematik und Physik für unser heutiges Denken. Seit 2010 erscheinen jährlich die grafisch exzellenten Cahiers Gatti und gestatten einen neuen Blick auf den aus dem Theatermarkt emigrierten Guerillero des Theaters. Am 26. Januar wird Gatti 90 Jahre alt.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal