Die Geschichte sichtbar machen

Im Rroma Info Centrum in Neukölln bilden sich Jugendliche zu Stadtführern aus

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.
Für die Toten der nationalsozialistischen Morde an Sinti und Rroma gibt es in Berlin kein würdiges Gedenken, bemängeln Jugendliche. Sie wollen die Lücke selber schließen - mit Stadtführungen.

»Als ich in der Schule war, stand in den Geschichtsbüchern der Satz: ›Es sind auch 500 000 Roma und Sinti umgekommen.‹ Das war alles, was es zur Vernichtung dieser Menschen zu sagen gab.« Hajdi Barz ist 25, ihre Schulzeit liegt noch nicht lange zurück. Jetzt wird sie selbst Lehrerin für Französisch und Englisch - und ist eine der ehrenamtlich Engagierten im selbstorganisierten Rroma Info Centrum in der Fuldastraße in Neukölln. Hier ist die Idee von »Gestern mit den Augen von heute« entstanden: Rroma-Jugendliche lernen über die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Rroma im nationalsozialistischen Deutschland und Berlin und geben daran anschließend ihr Wissen weiter - in von ihnen selbst entwickelten Stadtrundgängen.

Das Projekt ist noch jung und bislang einzigartig: Neun Rroma-Jugendliche zwischen 14 und 15 Jahren sind seit September des vergangenen Jahres dabei. Sie bereiten sich zusammen darauf vor, ihr Wissen an andere Jugendgruppen weiterzugeben - Anfragen gebe es bereits viele, auch wenn die Rundgänge noch nicht einmal beworben worden seien. Die Teenager kommen aus unterschiedlichen Gründen, manche haben in den politischen Bündnissen der Rroma-Selbstorganisationen aktive Eltern, manche kommen, weil sie in der Schule oder über die Netzwerke des Rroma Info Centrum davon gehört haben. Dabei geblieben sind sie alle - und, so erzählt Hajdi Barz, »sie sind diejenigen, die die inhaltlichen und künstlerischen Impulse setzen«. Sie wollen sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen - im politisch-gesellschaftlichen Jetzt und Hier und nicht über die privaten Hintergründe: »Wir sind keine Selbsthilfegruppe, es geht um Selbstermächtigung und Bestärkung, im Englischen spricht man auch von Empowerment.«

Begonnen haben sie mit einem Mahnmalspaziergang: Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, Mahnmal für die ermordeten Homosexuellen, Mahnmal für die »Euthanasie«-Opfer, Mahnmal für die Sinti und Roma. Dabei sei ihnen aufgefallen, wie unterschiedlich all diese Orte sind und wie sehr es an Informationen mangelt. So sei die Idee entstanden, die Wissenslücke zum Mahnmal für ermordeten Sinti und Roma selbst zu füllen - »die Kids haben gesagt: das können wir«. Dann lesen sie Texte wie »Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma: ein Überblick« von Silvio Peritore oder die Interview-Sammlung von Adam Strauss und Josef Behringer, in der hessische Sinti und Roma über ihre Verfolgung während des Nationalsozialismus berichten; sehen Filme von Melanie Spitta und über Ceija Stojka. Autorinnen und Filmemacher, die alle selbst Rroma oder Sinti sind.

»Die Lücke des Porajmos, wie die Vernichtung der Rroma und Sinti auf Romanes heißt, ist eine Mehrfach-Lücke«, erläutert Elsa Fernandez, Kollegin von Hajdi Barz. Zwar gebe es seit 2012 das Mahnmal, aber der Umgang damit stecke für sie »voller Verachtung«. »Es ist kein Ort des würdigen Erinnerns. Es gibt kein sensibles Begleitprogramm, keine Erforschung. Und es gibt keine Öffentlichkeit, an der vor allem auch Rroma teilhaben können. Um die ›versteckte Geschichte‹ des Porajmos sichtbar zu machen, braucht es mehr, als ein Denkmal zu errichten, vor dem dann Security-Leute patrouillieren, die Rroma, die dort Musik machen oder auch betteln, wegzujagen, damit das ›Postkarten-Bild des Gedenkens‹ nicht gestört wird.« Das Desinteresse für die Gründe, warum viele Rroma auch heute noch zu den Ärmsten der Bevölkerung gehören, ergänzt Hajdi Bartz, sei dabei so groß wie eh und je. Das ärgere sie. Dabei zeigten sich die Kontinuitäten der nationalsozialistischen Verfolgung gerade hier: in der repressiven Gewalt, der Rroma europaweit ausgesetzt sind, in der Fortsetzung eugenistischer Denk- und Sprechweisen über »Asoziale«, die »Asyltourismus« betreiben.

Das Sprechen über den Porajmos verweist also in die Gegenwart: das Gestern mit den Augen von heute sehen. Dennoch, so Barz, beginne das Problem beim »Darüber-Sprechen-Können«. Dafür gäbe es kaum geeignete Orte. Das Rroma Info Centrum kämpft jeden Monat neu darum, bestehen zu bleiben. »Rroma-Vertreter werden gern eingeladen, um gratis bei Veranstaltungen zu sprechen oder bei politischen Entscheidungen Beratungshilfe zu leisten. Aber die Miete für die Räume, die viele Gruppen so dringend brauchen, die will niemand zahlen.« Die Ebene der politischen Zusammenarbeit, eine langfristig angelegte politische Bildung, Wertschätzung, die sich auch in einer gesicherten Finanzierung ausdrücken kann - all das fehle gänzlich. Ein Grund mehr für die Selbstorganisationen, sich immer wieder auch eine politische Öffentlichkeit zu wenden, die - da sind Barz und Fernandez sehr deutlich - zwar gern Mahnmale für ein touristisches Publikum baut, aber sich nicht unbedingt für die Opfergruppen einsetzt.

Die Jugendlichen der Gruppe wollen noch kein Interview geben - erst einmal sollen die Konzepte für die Rundgänge fertig werden: Sie könnten Biografien folgen, die Orte der Vernichtung in Berlin sichtbar machen oder Täterorte erläutern, wie zum Beispiel die »Rassenhygienische Forschungsstelle von Robert Ritter«. Neben anderen Forschungsexkursionen soll es auch nach Marzahn gehen, wo zwischen 1936 und 1945 das NS-Zwangslager für Sinti und Roma bestand. »Kommen Sie im April wieder, dann können wir berichten, wie die ersten Rundgänge gelaufen sind«, sagen die Jugendlichen.

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