Leben ohne Schmerz

Buchrezension

  • Eric Breitinger
  • Lesedauer: 2 Min.

Jeder sechste Deutsche leidet an chronischen Schmerzen. Dennoch liegt deren Behandlung in Deutschlands Spitälern, Arztpraxen und Altenheimen im Argen, schreibt der holländische Publizist Sytze van der Zee. Denn angehende Ärzte erfahren im Studium nur am Rande etwas zum Thema Schmerzbehandlung. Die meisten Ärzte geben lindernde Opiate daher nur zögerlich, weil sie fürchten, ihre Patienten mit diesen Stoffen süchtig zu machen. Laut US-Studien ist das aber eine in der Regel unberechtigte Sorge. Zugleich dosieren Ärzte Schmerzmittel bei ihren älteren Patienten oft viel zu stark. Der Körper baut im Alter Wirkstoffe jedoch eher langsam ab und Nebenwirkungen äußern sich stärker.

Sytze van der Zee beleuchtet in seinem Buch die Facetten eines Themas, mit dem die meisten Menschen öfter zu tun haben, als ihnen lieb ist. Noch im Mittelalter verklärten Kirchenführer Schmerzen als gottgewolltes »Privileg« des Menschen, das sie die Leiden Jesu nachempfinden lasse. Heute ist die »Türkontroll-Theorie« anerkannt: Nach einer Verletzung schütten die Neuronen im Nervensystem Botenstoffe aus, welche die Schmerzsignale weiterleiten. So gelangt der Reiz zum »neurologischen Tor« im Rückenmark und weiter ins Gehirn, wo die emotionale Bewertung der Sache stattfindet. Angst oder Wut lassen Betroffene Schmerzen stärker empfinden, Spaß und Entspannung eher schwächer.

Der Autor erläutert Methoden zur Schmerzbehandlung - vom Äther, über Morphin bis zur noch in den 1950er Jahren praktizierten, barbarischen Praxis der Lobotomie, einer Gehirn-OP per »Eispickel«, bei der viele Patienten starben oder als »Zombies« überlebten. Er enttarnt Akupunktur und Magnetismus als wissenschaftlich nicht belegte Scheintherapien. Er erklärt, dass vor 30 Jahren viele Mediziner glaubten, dass Säuglinge keine Schmerzen empfänden. Eine zentrale Erkenntnis offenbart das Kapitel über jene Menschen, denen wegen eines Gendefekts jegliches Empfinden für Schmerzen fehlt. Ihre Lebenserwartung liegt im Schnitt bei lediglich fünfzehn Jahren, weil sie sich oft verletzen, aber keinerlei Maßnahmen ergreifen, um diese Vorfälle zu verhindern. Anders gesagt: Der Schmerz ist der wichtigste Mechanismus für den Selbstschutz des menschlichen Körpers.

Die Lektüre ist schmerzfrei. Der Autor lockert sperrige Passagen durch Schilderungen eigener Erfahrungen auf. Darüber hinaus eröffnen 18 eingestreute, anrührende Porträts Einblicke in das Gefühlsleben Betroffener. Die Geschichten verdeutlichen auch, dass Schmerzpatienten oft unter den Urteilen von Menschen aus ihrer Umwelt leiden, die sie leichtfertig als Simulanten oder Hypochonder abstempeln.

Sytze van der Zee: Schmerz. Eine Biografie. Albrecht Knaus Verlag, München 2013, 384 Seiten, 22,99 €.

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