Warum eigentlich Sotschi?

Statt für die Olympischen Spiele den Ural anzubieten, wählte Russlands Regierung eine umkämpfte Region

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 4 Min.

Sotschi, Russlands größtes balneologische Heilbad und Luftkurort liegt in einer historisch bedeutsamen und ereignisreichen Region. Seit dem 18. Jahrhundert befand sich der Kaukasus mit seinen vielen Völkern im Visier russischer Expansionspolitik. Diese ging zwar, zum Teil wenigstens, mit den Interessen der kaukasischen Völker konform, die sich Übergriffen von Persern und Türken zu erwehren hatten und russische militärische Unterstützung gebrauchen konnten. Die zaristische Regierung strebte jedoch vordergründig nach der Beherrschung des Kaukasus, der wichtigen Landbrücke zum Iran und zur Türkei, dabei ganz dem Prinzip »Teile und Herrsche« folgend.

Nach dem Russisch-Türkischen Krieg von 1828/29 fielen die gesamte östliche Schwarzmeerküste vom Kuban bis Poti im Süden, das Khanat Nachitschewan und der Osten Armeniens an Russland, ein strategischer Vorteil für den Kampf um den Kaukasus. Während sich der kaukasische und russische Adel sehr bald miteinander verbanden, litt die einfache Bevölkerung unter einem doppelten Joch: der Ausbeutung durch die eigenen Feudalherren und dem Kolonisationsdruck Russlands. Wiederholt kam es zu antifeudalen, sozialen und antirussischen Aufständen. Die russischen Truppen schlugen unbarmherzig zu, so 1819/20 in Georgien, 1821 in Abchasien, etwa gleichzeitig in Kabardino-Balkarien und auf dem Gebiet der Adygen (Tscherkessen) sowie kurz darauf 1825/26 in Tschetschenien.

Die Region blieb das gesamte 19. Jahrhundert ein Unruheherd. Gefährlich für Russland waren die wiederholten Versuche, im Nordkaukasus mit Tschetschenien und Dagestan als Kern ein islamisch geprägtes Imamat zu errichten. Vor allem der charismatische Imam Dschamil machte den Russen schwer zu schaffen. Erst 1859 streckte er endgültig die Waffen und wurde nach Sibirien verbannt. Parallel zu den Aktionen Dschamils erhoben sich 1844 die Adygen (Tscherkessen). Russland reagierte mit eiserner Faust. Strafexpeditionen brannten die tscherkessischen Dörfer nieder, verwüsteten den Lebensraum der Adygen und zwangen sie 1849 und noch einmal 1851 zur Kapitulation. Dennoch flackerte ihr Widerstand in mehr oder weniger heftiger Form immer wieder auf.

Die Tscherkessen hatten Elend und Pein russischer Kolonisationspraxis wohl am schwersten zu ertragen. Ihr Schicksal ist mit jenem der Armenier in der Türkei zu vergleichen. Ende der 1850er Jahre begann die gewaltsame Deportation der Tscherkessen. Sie wurden zur Emigration in die Türkei oder Neuansiedlung in der Steppe des Kuban gezwungen. Die massenweise Vertreibung erreichte ihren Höhepunkt 1864. Der Exodus der Adygen/Tscherkessen, auch von Abchasen über das Schwarze Meer in die Türkei, auf den Balkan sowie nach Westeuropa und in den Nahen Osten erfolgte vor allem von Sotschi aus. Wie viele flüchteten, weiß niemand genau. Schätzungen gehen von zwei bis fünf Millionen aus. Viele starben auf See, weshalb, wie der Volksmund weiß, Tscherkessen keinen Fisch mehr verzehren, der aus dem Schwarzen Meer stammt. Im Kaukasus selbst dürfte heute noch gut eine halbe Million Angehöriger dieses einst stolzen, tapferen Volkes leben, dessen Frauen für ihre Schönheit gerühmt wurden.

Warum also Sotschi? Warum wurde von Russland gerade dieser Ort für die Austragung der Olympischen Winterspiele 2014 vorgeschlagen? Liegt er doch in einer auch heute noch politisch höchst sensiblen Region? Will die Moskauer Regierung aller Welt beweisen, dass sie den Kaukasus, zumindest seinen nördlichen Teil fest im Griff hat und dem dortigen Terrorismus jederzeit die Stirn zu bieten vermag? Es scheint das alte, traditionelle imperiale Denken nach wie vor in den Köpfen Moskauer Politiker zu spuken.

Russland ist groß, stark und mächtig. Daran kann niemand zweifeln. Russland hat, trotz mancher dunkler Flecken, eine ruhmvolle Geschichte. Unumstritten ist Russlands gewaltiger Beitrag zur Weltkultur. Renommiergebaren hat das Land nicht nötig. Im Ural, als dem russischsten aller Gebirge, hätte sich gewiss ein zu Sotschi alternativer Ort Olympischer Spiele finden lassen, politisch neutral, ohne historische Lasten und schneesicher. Die gigantischen Finanzmittel, die aufgebracht werden mussten, wären besser dort angelegt - zum Nutzen einer ganzen Region und ihrer Infrastruktur und eines neuen Wintersportzentrums von nationaler und zunehmender internationaler Bedeutung. Die Verwirklichung eines solchen Aufbauprogramms wäre Russlands besser gerecht geworden als der Ausbau von Sotschi und Umgebung zu einer Olympischen Festung. Oder hatte man Angst, die Olympioniken und Besucher zu weit ins Landesinnere blicken zu lassen?

In Krasnaja Poljana (deutsch: Schönes Feld, früher Kbaade), wo sich heute Bettenburgen, Skilifte und Sprungschanzen erheben, schossen im Mai 1864, vor 250 Jahren, russische Truppen den letzten Widerstand der nordkaukasischen Bergvölker zusammen; eine Siegesparade folgte. Während in Krasnaja Poljana ein Denkmal an die hier im Zweiten Weltkrieg stattgefundenen Kämpfe und den Sieg der Sowjetunion über die deutsch-faschistischen Eroberer erinnert, findet man hier keinen Hinweis auf die vertriebenen Tscherkessen/Adygen und Ubygen und das Massaker von 1864. Deren Vergangenheit scheint ausgelöscht. Wo sich im 19. Jahrhundert ihre Dörfer befanden, wo sie auf den Bergwiesen ihr Vieh weideten und ihr Brauchtum mit Gesang und Tanz pflegten, beginnen nun also in einer Woche die olympischen Wettkämpfe.

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