Verhinderte Verhandlung

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.
Drei Verhandlungstage und noch ist die Anklage nicht verlesen. Der Angeklagte, der sich selbst als »Staatsbürger des Deutschen Reiches« bezeichnet, überschüttet das Gericht mit Anträgen.

Richtig wütend ist er geworden, der 58-jährige Jürgen B., nachdem ihn das »nd« in einem Beitrag vom 10. Januar als »Selbsternannten Reichsbürger« bezeichnet hatte. Und er kündigt Klage wegen Verleumdung gegen den Schreiber des Artikels an. Das Gericht nimmt es in seiner Verhandlung am Donnerstag als Anlage 12 zu Protokoll. Er sei weder ein Nazi, noch habe er mit der NPD etwas am Hut. B. selbst bezeichnete sich zum Prozessauftakt vor über einem Monat als »Staatsbürger des Deutschen Reiches«, weitere Angaben zu seiner Person machte er nicht. Beschuldigt ist er laut Anklage wegen »Verunglimpfung von Verfassungsorganen«. Er soll in seinem Auto einen den RAF-Fahndungsplakaten nachempfundenen großflächigen Zettel gezeigt haben, auf dem Ex-Außenminister Westerwelle und Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit als Verbrecher dargestellt werden.

Der dritte Verhandlungstag begann, wie der erste und der zweite geendet hatten. Jürgen B., der weder das Gericht, noch die Staatsanwaltschaft, noch die Polizei, noch den Staat anerkennt, überschüttete die Kammer mit immer neuen und alten Anträgen und Stellungnahmen gegen die Gerichtsbesetzung, gegen die eigene Verteidigung, gegen fehlende Akteneinsicht, gegen das »nd« und und und. Die Vorsitzende Richterin ist sichtlich genervt und wären Filmaufnahmen im Gerichtssaal gestattet, wäre allein ihr Gesichtsausdruck Stoff für einen Berlinale-Beitrag in Spielfilmlänge.

Für B. hat das Deutsche Reich nie aufgehört zu existieren, der gegenwärtige Rechtszustand sei ein von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges aufgezwungenes Machwerk. Somit seien auch alle handelnden Personen in Amt und Würden als solche nicht zu akzeptieren. »Es gibt keinen Staat«, zitiert er sich selbst aus den Verhandlungen zuvor. Der Mann befindet sich in einem unauflösbaren Dilemma. Er akzeptiert den Staat und damit seine Gesetze nicht, muss aber vor Gericht auf all die Paragrafen zurückgreifen, die für die Bundesrepublik gelten und die ihn nun unter Anklage stellen.

B. fordert die Einstellung des Verfahrens, das kann aber nur die Kammer entscheiden. Und entscheiden kann sie nur, wenn alle Richter - die hauptberuflichen, wie die ehrenamtlichen - wissen, was in der Anklageschrift steht. Die Schöffen kennen die Akten nicht und können nur über das urteilen, was in der Verhandlung gesagt und gezeigt wird. Da die Anklage bis zur Mittagszeit noch nicht verlesen ist, wissen sie eigentlich auch nach einem Monat gar nicht, worum es in dem Verfahren geht. Und so dreht sich das Karussell weiter.

Immer wieder fragt die Richterin, was er nun eigentlich wolle, doch B. entscheidet sich für Anträge aus der Endlosschleife. Irgendwann platzt der Vorsitzenden dann doch der Kragen. »Und wenn sie 20 Jahre verhandeln wollen, wir haben genug Zeit«. B. macht unbeirrt weiter. »Wenn sich die Rechtslage von heute auf morgen verändert, dann werden sie es verstehen.« Ein neues, altes Reich? Noch versteht ihn keiner - außer den acht Getreuen, die als Zuschauer der Verhandlung beiwohnen. Die vom Verfassungsschutz als Reichsbürger - einige Hundert an der Zahl - eingestuften Verschwörungstheoretiker, Deutschland-im-Untergang-Propheten, Kaisertreuen oder Judenhasser bilden keine feste Organisation, sie sind über das ganze Land verstreut und agitieren sich gegenseitig über das Internet.

Der merkwürdige Prozess findet seinen Fortgang. Ergebnis ungewiss.

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