Geheimniskrämerei um Contergan

Geschädigte wollen von Aachener Pharmafirma Grünenthal die Archiv-Öffnung erzwingen

  • Anja Krüger
  • Lesedauer: 3 Min.
Über 50 Jahre nach dem Contergan-Skandal sind immer noch nicht alle Dokumente für die Öffentlichkeit zugänglich.

Mit einer Online-Petition wollen Contergan-Geschädigte die Öffnung des Archivs des Aachener Pharmaunternehmens Grünenthal erreichen. Damit sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, einen der größten Arzneimittel-Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik endlich umfassend aufzuklären. »Wir haben ein Recht darauf zu wissen, was passiert ist«, sagt Petition-Initiatorin Doris Leipelt.

Nach der Markteinführung des Schlafmittels Contergan im Jahr 1957 waren weltweit mehr als 10 000 Kinder mit schweren Missbildungen auf die Welt gekommen, davon 5000 in Deutschland. Erst im November 1961 wurde der Vertrieb des Medikaments gestoppt, obwohl bereits vorher Hinweise auf dessen schädigende Wirkung vorlagen. Heute leben in Deutschland noch etwa 2500 Menschen mit einer contergan-bedingten Behinderung. Eine eigens eingerichtete Stiftung leistet Entschädigungszahlungen.

Aufgrund der schleppenden und immer noch nicht abgeschlossenen Aufarbeitung des Skandals gibt es bis heute Spekulationen über geheime Absprachen zwischen Unternehmen, Politik und Justiz. NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) hat einer Historikergruppe um Professor Thomas Großböltung von der Universität Münster den Auftrag gegeben, die Rolle der damaligen Landesregierung zu untersuchen. Die Forscher sollen die Abläufe der Ermittlungs- und Strafverfahren untersuchen und prüfen, warum das Medikament so spät vom Markt genommen wurde.

Die Firma Grünenthal will die Forscher unterstützen, aber nicht ihr Archiv öffnen. »Aufgrund der komplexen Rechtsstreitigkeiten ist es nicht möglich, Dritten das Archiv zur Verfügung zu stellen«, sagt Sprecher Frank Schönrock. In Australien und Spanien sind noch Sammelklagen von Geschädigten anhängig. Im Zuge des großen Contergan-Prozesses in Deutschland Anfang der 1970er Jahre seien 300 000 bis 400 000 Seiten an Dokumenten an die Behörden übergeben worden. Diese Unterlagen stünden den Forschern zur Verfügung, sagt der Sprecher.

Doris Leipelt, deren Mutter das Schlafmittel Contergan 1961 eingenommen hatte, zeigt kein Verständnis für diese Argumente: »Wenn das Unternehmen mit Hinweis auf laufende Prozesse niemanden in das Archiv lassen will, ist es ja logisch, dass es etwas zu verbergen hat.« Sie hat das Unternehmen über ihre Petition informiert und wurde zu einem Gespräch geladen. Im Frühsommer möchte sie die Unterschriften der Firmenleitung persönlich übergeben. Mittlerweile haben mehr als 11 000 Menschen die Petition unterschrieben, die seit Anfang März im Netz ist. »Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Menschen mein Anliegen teilen«, freut sie sich.

Forscher Großbölting scheint wenig glücklich über die Online-Petition zu sein. Er glaubt nicht, dass diese dazu beiträgt, das Unternehmen zu einer Meinungsänderung zu bewegen. »Als Historiker ist einem immer daran gelegen, Zugang zu Archiven zu bekommen«, sagt der Wissenschaftler. Aber die Einschränkung stelle seinen Forschungsauftrag nicht in Frage. Denn zum einen stünden die seinerzeit von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmten umfangreichen Aktenbestände zur Verfügung. Zum anderen gehe es bei dem Forschungsauftrag nicht um Fehler der Firma Grünenthal, sondern um die damalige Haltung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Behörden.

Der Bundesverband Contergangeschädigter dagegen unterstützt die Online-Petition. Die Argumente von Grünenthal seien vorgeschoben, sagt Sprecherin Margit Hudelmaier. »Wenn man nichts zu verbergen hätte, würde man sagen: Kommt und schaut euch um.« Das Unternehmen falle hinter die Zusage des damaligen Geschäftsführers Harald Stock 2009 gegenüber dem Bundesverband zurück. Er habe die Archiv-Öffnung in Aussicht gestellt. »Aber seitdem ist nichts passiert.«

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