Brasiliens Regierung ist nervös
Verena Glass über die Konflikte im »Land des Fußballs« wenige Wochen vor der WM
nd: Wenige Wochen vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien werden von der Politik neue Massenproteste wie 2013 befürchtet. Und die sozialen Bewegungen fürchten eine neue Repressionswelle. Teilen Sie diese Einschätzungen?
Glass: Ja. Wir müssen ins vergangene Jahr zurückschauen. Denn es war eine für alle verblüffende Situation: Die Regierung galt als populär und sie erhielt Zustimmung in der Bevölkerung - und dann wurde aus dem Protest gegen Fahrpreiserhöhungen ganz plötzlich ein Massenprotest, der im Juni 2013 das ganze Land erfasste. Und der Protest kam von Gruppen und Initiativen, die eher spontan und wenig organisiert waren, was sie grundsätzlich von den uns bisher bekannten sozialen Organisationen in Brasilien unterscheidet.
Wie wirkte sich das aus?
Das bedeutete, dass sehr viele, auch verschiedene Themen von den Gruppen auf die Agenda gesetzt wurden, darunter auch das Thema der Fußball-WM, den damit zusammenhängenden Milliardenausgaben des Staates für Stadien, Zufahrtsstraßen und den sozialen Folgen davon: Zwangsumsiedlung, Abriss bestehender Viertel, um Raum zu schaffen für eben diese WM-Projekte und die damit zusammenhängende kommerzielle Aufwertung der betroffenen Stadtteile. Und dies steht in krassem Gegensatz zur chronischen Vernachlässigung öffentlicher Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und öffentlicher Nahverkehr.
Wie reagieren die Bundes- und Landesregierungen auf die Proteste?
Erstens stark mit Polizeigewalt. Und zum Ende des Jahres reagierten regierungsnahe Parlamentarier nicht besser und holten aus den Schubladen verschiedene »Anti-Terror«-Gesetzesvorhaben hervor, um die Demonstrationen im Zaume zu halten - gegenwärtig liegen diesbezüglich im Senat drei Gesetzesvorhaben auf dem Tisch. Und die Regierung beschloss, aus Angst vor Imageschäden durch neue Proteste vor der WM eine sehr grundlegende Maßnahme: Sie erließ ein Dekret, das den Einsatz der Armee in den unterschiedlichsten Konfliktsituationen im Inland erlaubt.
Das Dekret zur Sicherung von Gesetz und Ordnung, unterschrieben vom Verteidigungsminister Celso Amorim von Ende 2013.
Ja. Dann kam der Aufschrei, denn in dem Dekret wird von »gegnerischen Kräften« geredet, in Bezug auf die protestierende Jugend, so als zöge das Heer in den Krieg gegen den »äußeren Feind«. Diese Formulierung wurde dann schnell wieder gestrichen, aber die Zielrichtung bleibt dennoch die Gleiche: Repression der Mobilisierung sozialer Bewegungen. Der Verteidigungsminister sagte, die erfolgte Änderung sei nur eine »semantische« ...
Welchen Inhalts sind die Dekrete und Gesetze?
Sie bestimmen die Taten von »Ordnungsstörern«, die vom Gesetz abgestraft werden sollen. Da wird allgemein von Sachbeschädigung geredet, von widerrechtlicher Straßensperrung, Bedrohungen für die Infrastruktur, Besetzungen öffentlichen oder privaten Landes - also im Grunde all das, was die sozialen Bewegungen in Brasilien tun: Die Landbesetzungen der Landlosenbewegung oder die Organisdation der Staudammbetroffenen, die ein Wasserkraftwerk aus Protest umzingeln: Überall da könnte dann das Militär eingreifen, um die »Ordnungsstörung« zu unterbinden. Das, was von der Regierung als Mittel gegen die auch gewaltsamen Demoproteste des sogenannten Schwarzen Blocks gedacht war, dient dann im ganzen Land zur Kriminalisierung der bisher üblichen Protestformen der sozialen Bewegungen.
Betreffen diese Maßnahmen überwiegend die Städte?
Nicht nur. Die Regierung entsandte ja auch Militäreinheiten, die Nationale Sicherheitskraft, etwa zum Schutz von Großprojekten im Amazonien. Dies ist eine polizeilich-militärische Einheit, direkt der Bundesregierung unterstellt.
Wo werden diese Nationalen Sicherheitskräfte des Heeres eingesetzt?
Im Fall vom Belo-Monte-Damm schützen diese Sicherheitskräfte des Heeres das dortige private Baukonsortium. Am Tapajós-Fluss, wo die Regierung ebenfalls den Bau mehrerer Staudämme plant, beschützt die Truppe die Biologen, die dort im Regierungsauftrag in indigenes Territorium eindringen und dort die Umweltstudie durchführen. Die Truppe ist auch im Bundesstaat Bahia, wo die indigenen Tupinambá sich in einem regelrechten Krieg um ihr traditionelles Land mit den Großgrundbesitzern befinden. Diese Militäreinheit ist auch im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo es ebenfalls starke Landkonflikte zwischen den Guarani-Kaiowá und den weißen Landbesitzern gibt.
Wie bewerten Sie dieses Verhalten der Regierung?
Ich finde das ziemlich ungeschickt. Just um den Jahrestag des brasilianischen Militärputsches vor 50 Jahren wurden unter dem Dekret zur Sicherung von Gesetz und Ordnung ungefähr 2700 Militär- und Polizeikräfte in die Riesenfavela Maré in Rio de Janeiro geschickt, um diese zu »befrieden«. Dort gab es zuvor interne Drogenkonflikte. Aber was passiert? Am ersten Tag der Aktion wurden drei Minderjährige erschossen. Nach wenigen Tagen waren es bereits 16 Tote. Sozialprobleme mit Militärgewalt zu beschwichtigen scheint mir nicht sehr sinnvoll.
Gibt es Ähnlichkeiten zwischen früher und heute?
Wir leben in einer gefestigten Demokratie, das war vor 50 Jahren nicht der Fall. Aber einige Entwicklungsprojekte, vor allem diejenigen im Amazonasgebiet, bewahren Ähnlichkeiten mit dem, was das Militär früher als Lösung der Entwicklungsfrage präsentierte: Wenn die Leute vor Ort nicht befragt werden, wenn die Verfassung durch Gesetze, die noch aus der Zeit der Diktatur stammen, von Regionalrichtern ausgehebelt wird, wenn Umwelt- und Sozialgesetze missachtet werden, sind die Konsequenzen ganz ähnlich. Die Verfassung von 1988 ist gut, viele soziale und Umweltrechte wurden dort festgehalten, aber manchmal stehen sie nur auf dem Papier.
Ist die Regierung nervös?
Im Oktober werden in Brasilien Präsidentschaftswahlen sein. Wenn dann im Sommer der Weltöffentlichkeit keine glückliche Bevölkerung gezeigt wird, sondern protestierende Menschenmassen, könnte das die Wiederwahl Rousseffs gefährden. Daher soll Ruhe herrschen, die Regierung will keine Demos, keine »schlechten« Bilder, der Ball soll rollen.
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