Zur Entschleunigung doppelte Haft

Die EU behandelt die Ukraine wie einen »sicheren Drittstaat«, mit dramatischen Folgen für Betroffene

  • Darius Ossami
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Ukraine ist Objekt von Begehrlichkeiten der EU auch wegen ihrer Rolle als Teil des Zauns gegen Migration aus dem Osten. Dort als Flüchtling erkannt zu werden, kann für Betroffene gefährlich werden.

Beim sechsten Versuch ist es Hassan doch noch gelungen, die Grenze nach Europa zu überwinden und Asyl zu beantragen. Doch fünf lange Jahre nach Beginn seiner Flucht ist der junge Hassan ein kranker Mann. Ein Arzt in Landau hat ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und Tabletten verschrieben. Jetzt lernt Hassan Deutsch und hofft, dass sein Leben endlich zur Ruhe kommt.

Das Attest, das er der Ukraine ausstellt, fällt vernichtend aus: »Die Flüchtlinge werden in der Ukraine misshandelt. Und die Migrationsbehörden verweigern ihnen den Flüchtlingsstatus. Die meisten werden abgelehnt. Die Situation ist also sehr, sehr schrecklich. Flüchtlinge in der Ukraine haben keine Rechte.«

Hassan beobachtet die Ereignisse in der Ukraine, die seit Wochen die Schlagzeilen bestimmen, mit Interesse und zugleich distanziert. Die Leute auf dem Maidan erhoffen sich von der Hinwendung nach Europa, grob gesagt, mehr Freiheiten und mehr Rechte. Doch der junge Somalier ahnt, dass sich für Menschen wie ihn auch unter den neuen Machthabern in Kiew nichts verbessern wird. Auf seiner fast fünf Jahre dauernden Flucht nach Deutschland hat er die unmenschlichsten Seiten des ukrainischen Asylsystems zu spüren bekommen. Diese sind gewiss noch lange kein Thema in dem Land, dessen Einwohner selbst zunehmend verunsichert sind, die nicht wissen, was ihnen der morgige Tag bringt.

Im Wohnheim in Landau schenkt Hassan Fruchtsaft ein und setzt sich an den Tisch. »Ich wurde 1993 in Somalia geboren«, beginnt er. Als 15-jähriger wurde er von der Al-Shabaab-Miliz vor dem Tod gerettet - jedoch nur, um für diese in den Krieg zu ziehen. Nach wenigen Wochen konnte er fliehen, seine Mutter organisierte ihm die Reise in die Ukraine. An einen »sicheren Ort«, wie Hassan dachte. Doch als er dort im November 2008 ankam, wurde er ausgeraubt und verprügelt - von der Polizei. Statt in Sicherheit kam Hassan erst mal ins Gefängnis: »Die Polizisten verhörten und schlugen uns jeden Tag. Wir mussten putzen und wurden rassistisch beleidigt.«

Schließlich wurde er freigelassen, und es gelang ihm, über die Grenze nach Ungarn zu fliehen. Dort griffen ihn die ungarischen Grenzschützer auf. Doch anstatt seinen Antrag auf Asyl anzunehmen, übergaben sie ihn wieder den ukrainischen Grenztruppen, die ihn für sechs Monate ins Gefängnis steckten - wegen illegalen Grenzübertritts. Das war erst der Auftakt. Viereinhalb lange Jahre hatte Hassan als irregulärer Flüchtling in der Ukraine keine Rechte. Er erzählt, er sei wiederholt von Polizisten ausgeraubt und von Grenztruppen verprügelt worden: »Die ukrainischen Grenzsoldaten schlugen uns mit Knüppeln; sie folterten mich, bis ich das Bewusstsein verlor …«

Anerkennungsquote: ein Prozent

In der Ukraine existiert das Asylrecht praktisch nur auf dem Papier; 2012 wurden gerade mal 63 Flüchtlinge anerkannt. Zwar hat sich auch die Ukraine verpflichtet, Flüchtlinge nicht in Bürgerkriegsländer abzuschieben; aber 2010 lag die Anerkennungsquote für Somalier bei nur einem Prozent. Menschen wie Hassan werden also nicht abgeschoben, aber auch nicht als Flüchtlinge anerkannt. Als Menschen ohne Papiere, ohne Arbeitserlaubnis und ohne Rechte sind sie der als korrupt geltenden ukrainischen Polizei schutzlos ausgeliefert.

So bleibt für viele nur die Weiterreise. Jedes Jahr versuchen etwa 1000 Flüchtlinge, irregulär über die Grenze in die EU zu gelangen, schätzt Marc Speer. Er arbeitet für das Border Monitoring Project Ukraine, eine NGO, die sich kritisch mit dem Asylsystem in der Ukraine auseinandersetzt. Werden Flüchtlinge von Grenzschützern diesseits oder jenseits der EU-Außengrenze erwischt, begehen sie damit nach Lesart der Landesgesetze eine Straftat und werden zu einer Haftstrafe verurteilt. Haben sie diese abgesessen, werden sie in einen Zustand der Rechtlosigkeit entlassen, und das Spiel beginnt von Neuem.

Einerseits gibt es zwischen der EU und der Ukraine ein Rückübernahmeabkommen, dass seit Anfang 2010 auch für »Drittstaatenangehörige« wie Hassan gilt. Andererseits gilt ein »Refoulement«-Verbot, das besagt, dass Menschen wie er nur in einen sogenannten sicheren Drittstaat abgeschoben werden dürfen. Die Ukraine ist aber kein sicherer Drittstaat. Speer: »Wenn die Leute es schaffen, über die Grenze zu kommen, dann passiert es eben ganz oft, dass die Leute zurück in die Ukraine abgeschoben werden und dann ihre Haft absitzen. Es wird einfach behauptet, die Leute hätten keinen Asylantrag gestellt.«

Die Unglücklichen landen dann, ganz legal, in neuen oder frisch renovierten Haftanstalten. Diese sind für die Ukraine das Aushängeschild einer Flüchtlingspolitik, die an EU-Standards angelehnt sein soll. Die geschätzten 30 Millionen Euro für diese Heime, für Befragungsräume, Fortbildung für Grenztruppen und Logistik, kommen von der Europäischen Union. In Infoblättern ist von dem Ziel die Rede, Sicherheit und Wohlbefinden von Migranten in der Ukraine zu verbessern. Daher wurden unter anderem Migrant Accommodation Centers und Temporary Holding Facilities renoviert und neu ausgestattet. (Erklärung siehe Spalte rechts) »Man muss aber ganz klar sagen, dass es sich dabei um Gefängnisse handelt; die Leute sind dort eingesperrt, die können da nicht raus, wenn sie möchten«, meint Speer.

Für die Verteilung der EU-Gelder ist die EU-Kommission in der Ukraine zuständig. »Das Ziel dieser Zusammenarbeit«, schreibt deren Sprecher David Stulik, sei es, »die Ukraine bei ihren Bemühungen zu unterstützen, ihre Kapazitäten für das Migration Management zu verbessern, die Flüchtlingssituation mit langfristigen Lösungen zu verbessern und Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, die internationalen humanitären Standards gerecht werden«.

IOM baut Haftanstalten

»Die Standards für die Unterbringung irregulärer Flüchtlinge in der Ukraine haben sich verbessert«, findet auch Varvara Zhluktenko, Sprecherin der International Organisation of Migration (IOM) in der Ukraine. Kein Wunder, dass sie das sagt, denn die IOM Ukraine hat diese EU-finanzierten Projekte vor Ort ausgeführt. »Natürlich«, so Zhluktenko, »beschweren sich die dort inhaftierten Migranten immer, allein aus dem Grund, dass sie inhaftiert sind.«

Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren einiges bewegt. Die berüchtigte provisorische Haftanstalt Pavshino, in der sich die Insassen um das Trinkwasser aus Tankwagen prügeln mussten, wurde 2008 geschlossen. Die neuen, EU-finanzierten Haftanstalten sind geräumiger und moderner. Die verworrene und teilweise widersprüchliche ukrainische Asylgesetzgebung wurde reformiert. Die Ukraine verfolge nun eine Strategie, welche die Migranten einbeziehe, lobt das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

An der Korruption, der Rechtlosigkeit und den Folterungen hat das jedoch nichts geändert. Und im Zuge der letzten Asylrechtsreform 2011 wurde die Haftdauer für einen illegalen Grenzübertritt mal eben von sechs auf zwölf Monate verlängert. »Entschleunigung« nennt das Marc Speer. Nach einem weiteren Einreiseversuch in die EU wurde Hassan plötzlich zu der doppelten Haftstrafe verurteilt: »Ich sagte ihnen, ich bin kein Krimineller. Warum bekomme ich ein Jahr? Ich bin unschuldig. Ich brauche Asyl. Aber sie haben nicht auf mich gehört.«

Mit der Verbesserung der Situation der Flüchtlinge möchte die EU vor allem erreichen, dass unerwünschte Flüchtlinge gar nicht erst über die Ukraine in die EU gelangen. Mittelfristig soll die Ukraine zu einem sogenannten sicheren Drittstaat ausgebaut werden. Deswegen hat die EU 2007 das Rückübernahmeabkommen ratifiziert und investiert nicht nur in Grenzanlagen und Gefängnisse, sondern regt Gesetzesänderungen an und schickt halbstaatliche Menschenrechtskommissionen nach Voranmeldung in die neuen Haftanstalten.

Scheinexekutionen im Wald

»Im Gegenzug für die Unterzeichnung des Rückübernahmeabkommens hat die Ukraine Visa-Erleichterungen für eigene Staatsbürger erhalten«, so Speer. Die Ukraine hoffe immer noch, dass sie früher oder später mal den Status eines Beitrittskandidaten in die Europäische Union bekommen werde. Das Rückübernahmeabkommen ist auch für die neue Übergangsregierung in Kiew nach wie vor gültig; diese hat schließlich andere Probleme, als sich um die Rechte von Transitflüchtlingen zu kümmern. Trotz der Veränderungen in der Ukraine, so Speer, herrsche für die Flüchtlinge »business as usual«.

In seinen viereinhalb Jahren in der Ukraine hat Hassan die ganze Bandbreite des ukrainischen Asyldebakels miterlebt. Er wurde von der Polizei beraubt, im Verhörzimmer geschlagen, im Wald zum Schein exekutiert. Grenzschützer brachen seine Schulter: »Wir sind deine Ärzte«, höhnten sie, »wir prügeln dich gesund!« Hassan verbrachte insgesamt drei Jahre in verschiedenen Haftanstalten, unter anderem in Pavshino und Chop. Im Januar 2012 beteiligte er sich mit 57 weiteren Somalis im Zhuravichi-Gefängnis an einem Hungerstreik, der international Aufmerksamkeit erregte. Sie kämpften so gegen die Willkür ihrer Inhaftierung und sofortige Freilassung. Der UNHCR kam, stellte fest, dass ihre Inhaftierung gegen die EU-Menschenrechtskonvention verstoße - und ging wieder.

Staatliche Entschleunigung für Geflüchtete

Ein Grund für diese Rechtlosigkeit liegt an den fehlenden zivilgesellschaftlichen Akteuren. Auf dem Gebiet des Migration Management in der Ukraine hält die IOM die meisten Fäden in der Hand. Die IOM ist, wie auch Frontex oder das UNHCR, eine Regierungsorganisation. Die wenigen in der Ukraine aktiven Nichtregierungsorganisationen wie etwa Caritas oder der Rechtshilfebeistand Neeka sind finanziell auf Aufträge etwa von der IOM angewiesen. Mit allzu scharfer Kritik würden sie Gefahr laufen, sich ihren eigenen Geldhahn zuzudrehen.

Hassans Geschichte beweist für Marc Speer, dass die Ukraine noch weit davon entfernt ist, als sicherer Drittstaat zu gelten: »Es gibt schon seit Jahren Bemühungen, das Asylsystem zu verbessern, aber man muss einfach sagen, ganz offensichtlich hat es nicht funktioniert. Selbst das UNHCR sagt ganz klar, dass es sich bei der Ukraine nach wie vor nicht um einen sicheren Drittstaat handelt und in der Zukunft auch nicht so schnell handeln wird.« Deshalb fordert Speer, dass die EU nicht dazu beiträgt, dass Flüchtlinge in die Ukraine abgeschoben und dort für zwölf Monate inhaftiert werden.

Doch auch jetzt, unter den Bedingungen gesellschaftlicher Umwälzungen in dem Land, werde sich kaum etwas ändern, meint Speer. Die Transitmigranten werden weiterhin ein politischer Spielball zwischen der EU und der jeweiligen ukrainischen Regierung bleiben. In dem Ende März unterzeichneten politischen Teil des umstrittenen Partnerschaftsabkommens mit der EU heißt es unter anderem, dass man gemeinsam »effektiv und vorbeugend« gegen »illegale Migration« vorgehen und eine »effektive Rückkehrpolitik« entwickeln wolle.

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