Bis tief in die Nacht hinein ...

Der Breslauer Maiaufstand in der Reichsverfassungskampagne von 1849

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Frühjahr 1849 geschah bis dahin Unglaubliches: Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte erhob sich das Volk für eine Verfassung und adelte sie damit zu einer demokratischen Angelegenheit. Verabschiedet hatte sie das Frankfurter Nationalparlament am 27. und 28. März 1849 für ein deutsches Reich, das alle deutschen Einzelstaaten - mit Ausnahme Österreichs - vereinigen sollte, und zwar in einer parlamentarisch-demokratischen Ordnung. Die größeren deutschen Staaten, voran Preußen, lehnten deren Einführung jedoch strikt ab. Daraufhin traten in Dresden und Elberfeld, vor allem aber in der Rheinpfalz und in Baden revolutionäre Kräfte auf den Plan, das Verfassungswerk durch Druck von unten durchzusetzen. Ein frühes Zentrum dieses Widerstands war die schlesische Hauptstadt Breslau.

Als Friedrich Wilhelm IV. die preußische Zweite Kammer am 27. April 1849 auseinanderjagte, weil sie mehrheitlich die Anerkennung der Verfassung für Preußen beschlossen hatte, organisierten die Breslauer Demokraten tags darauf eine der größten Volksversammlungen der Stadt. Eine trotz Verbot erneut einberufene Volksversammlung am 6. Mai wurde schließlich zum Fanal für die Erhebung. Entschiedene Demokraten wie der Arbeiter Viktor Pelz, der »Literat« August Semrau und der radikale Student Robert Schlehan erklärten, da Resolutionen nicht mehr ausreichten, müsse nun zur Tat geschritten werden. Daraufhin zogen Tausende in mehreren Zügen demonstrativ in verschiedene Stadtteile. Vor dem Rathaus wurde die Republik gefordert. Ein unter roter Fahne marschierender Trupp verlangte die Einführung der sozialen Republik. Militär schritt ein. Erste Barrikaden wurden errichtet, allerdings - bis auf eine - beim Anrücken der Infanterie wieder aufgegeben. Gegen Mitternacht war die Ruhe weitgehend wiederhergestellt.

Es war die Ruhe vor dem Sturm. Am Nachmittag des 7. Mai wurden erneut Barrikaden gebaut, nunmehr an mehreren zentralen Punkten, an der Schmiedebrücke, in der Ohlauer- und der Nikolaistraße, an der Grünen Baumbrücke, am »Blauen Hirsch« und am »Siehdichfür«. Eine vom Chef der verbotenen Bürgerwehr, dem Arzt Heinrich Otto Engelmann, befohlene Gruppe versuchte, trommelnd durch die Straßen ziehend, in der Vinzenzkirche die Sturmglocken zu läuten, um die gesamte Bürgerwehr zu alarmieren, was Militär jedoch verhindern konnte.

Inzwischen hatte der Barrikadenkampf eingesetzt. Erbittert wurde den anstürmenden Militärkolonnen mit Waffen aller Art Widerstand geleistet. »Aus den benachbarten Häusern fielen fort und fort Schüsse auf das Militär und von den Dächern herab regnete es Steine und Flachwerke«, heißt es in einem Augenzeugenbericht. »Drei- bis viermal wird vergeblich Sturm gelaufen, endlich von den Jägern die Barrikade genommen und von den Pionieren zerstört. Der Verlust an Toten und Verwundeten muss hier bedeutend gewesen sein … Bis tief in die Nacht durchzogen starke Militärabteilungen die Stadt und erst gegen 12 Uhr konnte man die Ruhe als hergestellt betrachten.« Der Aufstand erlag nach Stunden der Übermacht des Militärs. Über Breslau und Umgebung wurde der Belagerungszustand ausgerufen.

Von der Härte der Kämpfe zeugen zwölf Opfer auf Seiten der Aufständischen, denen sechs tote Militärangehörige gegenüberstanden. Die Aufständischen rekrutierten sich zu mehr als 80 Prozent aus den proletarischen Schichten, Gesellen, Tagelöhnern, Lehrlingen, aber auch aus verarmten Handwerkern und Gewerbetreibenden. Die Konterrevolution erklärte sie allesamt zu Sozialdemokraten: »Die aufrührerische Partei bestand aus den sozialdemokratischen Arbeitern«, hieß es im Bericht des Oberpräsidenten. Das wohlhabende Bürgertum war an der Erhebung gänzlich unbeteiligt.

Der Brelsauer Maiaufstand trug weitgehend spontanen Charakter. Ein leitendes Zentrum kam ungeachtet intensiver Bemühungen von Engelmann nicht zustande. Weder die Bürgerwehr noch die politischen Führungskräfte der Breslauer Demokratie sahen sich zur Leitung imstande. Letztere hatten sich - bis auf wenige Ausnahmen, zu denen Schlehan und der gefallene Postsekretär Ferdinand Freytag gehörten - am bewaffneten Kampf nicht beteiligt. Dessen ungeachtet sollten auch sie vor den Kadi gezerrt werden. Zwar hätten sich die »Häupter der Demokratie« auf der Straße nicht sehen lassen, konstatierte die obsiegende Konterrevolution, doch sei der Aufruhr durch deren Reden und Appelle, vor allem am 6. Mai, entfacht worden. Das sollten sie büßen.

So traf auch die führenden Breslauer Demokraten die Anklage, die ein Jahr später im so genannten Breslauer Maiprozess von 1850 gegen mehr als hundert Teilnehmer bzw. indirekt am Aufstand Beteiligte erhoben wurde. Der Mammutprozess bestätigte die plebejisch-proletarische Trägerschaft der Erhebung. Von den 40 Verurteilten waren 30 Gesellen, Arbeiter, Lehrlinge, der jüngste gerade 18 Jahre alt; nur sieben hatten intellektuelle Berufe, darunter der Gymnasiallehrer Moritz Elsner, der sich durch Flucht der Strafe entziehen konnte, und der Journalist Semrau, der drei Jahre auf der Festung Glatz absitzen musste. Beide waren wegen »Erregung eines Aufruhrs aus grober Fahrlässigkeit« verurteilt worden. Das härteste Urteil traf mit acht Jahren Zuchthaus den 19-jährigen Kellner Richard Kunst sowie den zum Haupträdelsführer erklärten Schlehan, nach dem der Maiprozess auch benannt worden war; er musste in der Festungsstrafabteilung von Silberberg acht Jahre schwere Schanzarbeiten leisten. Brechen konnte die konterrevolutionäre Justiz den revolutionären Geist dennoch nicht. Nicht wenige der 1850 in die Gefängnisse und auf die Festungen Verbannten nahmen ein Jahrzehnt später, als sich in Deutschland nach der Reaktionsperiode das politische Leben wieder entfaltete, den Widerstand gegen das Regime in Preußen wieder auf. Elsner, Schlehan und Semrau sorgten für wirkungsvolle liberale und demokratische Opposition in der schlesischen Presse.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: