Keine böse Hexe

Marci Shore sah sich in Osteuropa um

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie fuhr 1993 erstmals nach Osteuropa - Marci Shore, eine junge Wissenschaftlerin aus Amerika, voller Neugier auf die Samtene Revolution und eine »Geschichte mit gutem Ende«. Vom Osten kannte sie wenig mehr als die Essays eines Václav Havel. Das gute Ende hat sie damals nicht gesehen, stattdessen ein Gespenst, das »Gespenst der Vergangenheit«. Gut zwanzig Jahre und zahllose Reisen später legt die Historikerin nun eine Art Logbuch ihrer Fahrten durch Osteuropa vor.

»Der Geschmack von Asche« - Wie kam sie auf den schrecklich-schönen Titel? Durch ein makabres Erlebnis. Ein Tscheche kehrte nach 25 Jahren Exil in die Heimat, nach Prag zurück, fühlte sich nicht gebraucht und nicht verstanden und beging Suizid. Marci Shore war beim Abschied im privaten Kreis, in einer Plattenbauwohnung dabei, die Urne stand im Raum; eine Freundin steckte einen Finger in die Asche und leckte daran. Natürlich: Der Titel ist auch Metapher - Erinnerung an die Millionen Toten des »Jahrhunderts der Wölfe«, wie Ossip Mandelstam das 20. nannte.

Was entdeckte die Professorin in Yale auf ihren Reisen? Zerrüttete Gesellschaften, traumatisiert durch Faschismus, Krieg, Holocaust und Stalinismus. Die Amerikanerin lernte, was wir schon wissen: »Der Kommunismus war keine böse Hexe, nach deren Ableben alle glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage lebten.« Schon im Sommer 1993 begriff sie: »Der klare Gegensatz zwischen Dissidenten und Kommunisten war trügerisch. Die Dissidenz selbst hatte oft ihre Wurzeln im Kommunismus.«

In Shores Buch kommen Zeitzeugen aus Warschau und Vilnius, Bratislava, Budapest, Krakau und Kiew zu Wort, Überlebende aus NS-Lagern und KGB-Gefängnissen. Die Wissenschaftlerin beschreibt, wie Menschen in den Nischen der »-ismen« überlebten. Und wie Nazigegner zu Stalinisten wurden, Opfer zu Tätern. Sie porträtiert Prominente wie Václav Havel, Adam Michnik, Milan Kundera, aber auch Unbekannte. Sie hat ihren Gesprächspartnern gut zugehört, und was sie hörte, berührt. »Alles, was ich über den Menschen weiß, habe ich in den Lagern gelernt«, sagte ihr Arnošt Lustig, ein tschechisch-jüdischer Autor.

In einer böhmischen Kleinstadt lernte Marci Shore Mitte der Neunziger Tschechisch und als erstes Wort: »Pravda« (Wahrheit). Später die Wendung: »To není možné.« (Das ist nicht möglich) Hier der hehre Anspruch, dort Verzicht und Selbstbeschränkung - zwischen diesen Polen bewegen sich die Menschen der postkommunistischen Ära, noch geprägt in ideologiebelasteten Zeiten.

Marci Shore formte aus Oral History, Essay und Reportage ein anregendes, nachdenklich stimmendes Lesebuch. Ihr Fazit stellte sie voran: »Osteuropa ist anders. Es ist Europa, nur in höherem Maße. Hier leben und sterben die Menschen, nur in höherem Maße.«

Marci Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. A. d. Engl. v. Andrea Stumpf. C.H. Beck, München. 376 S., geb., 26,95 €.

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