Der Norden hat die Lektion gelernt

Kolumbiens Radtalent Nairo Quintana musste sich erst Respekt erkämpfen, nun fährt er der Elite beim Giro d’Italia davon

  • Tom Mustroph, Rifugio Panarotta
  • Lesedauer: 5 Min.
Trotz Erkältungen und Feindseligkeiten von anderen Fahrern geht beim Giro d’Italia ein Radsportstern auf, der die nächste Dekade zum leuchten bringen dürfte.

Nairo Quintana ist ein höflicher junger Mann. Wenn er den Schleim loswerden will, der sich in seinen strapazierten Atemwegen angesammelt hat, bittet er die Umstehenden freundlich darum, mal kurz etwas Platz zu machen. Danach zieht er sich das Trikot zurecht, trocknet das Gesicht ab und stellt sich inmitten Schnee bedeckter Gipfel wieder den vielen Fragen. Geduldig erklärt der Vorjahreszweite der Tour de France und aktuelle Gesamtführende des Giro d’Italia, warum er diese Italien-Rundfahrt anfangs nicht so dominierte, wie dies die Fachwelt nach seinem Alpenspektakel im Juli 2013 erwartet hatte. »Ich war sehr beeinträchtigt durch den Sturz in der ersten Woche und meine Erkältung. Beim Zeitfahren am Donnerstag waren meine Beine zwar wieder gut, aber ich habe viel zu wenig Luft bekommen. Da kommt dann auch nicht die optimale Leistung zustande«, sagt Quintana dem »nd«.

Geduldig erklärt Quintana auch, warum er sich keines Regelbruchs auf der Abfahrt vom Stilfser Joch bewusst sei, als er am Dienstag trotz Gerüchten über eine Neutralisierung der Abstände auf der gefährlichen Strecke den anderen davonfuhr. »Wir haben nicht attackiert, sondern nur versucht, schnell herunterzukommen. Wir sind schließlich in einem Rennen«, sagt er. Auf den Vorschlag anderer Teamchefs, ihm die auf der Abfahrt gewonnenen zwei Minuten abzuerkennen, reagiert er nur verwundert: »Ich würde das verstehen, wenn ich die Abfahrt mit dem Auto oder auf einem Motorrad absolviert hätte. Aber ich bin wie alle mit dem Rad runtergefahren.«

Aufs schnelle Radfahren versteht sich Quintana seit Kindheitstagen. Weil seine Eltern – der Vater arbeitete als Straßenverkäufer von Obst und Gemüse – den jungen Burschen auf eine bessere Schule schickte, musste er täglich 32 Kilometer zurücklegen. Die Rückfahrt wurde gekrönt von einem Hügel mit immerhin achtprozentiger Steigung. Lokale Journalisten erzählen gern, dass der kleine Nairo stets der Schnellste unter einer Handvoll Burschen gewesen sei. Er soll mit seinem klobigen 30 Dollar-Rad sogar ältere Jungs mit schnittigen Rennmaschinen abgehängt haben.

Seine körperliche Verfassung war im Alter von 19 Jahren dann so außerordentlich, dass der Trainer des ersten Klubs, bei dem er einen Leistungstest absolvierte, an einen Messfehler glaubte. Vicente Belda ist eine Kapazität in Sachen Leistungsmessung. Er stand jahrelang dem Rennstall Kelme vor, in dem der Dopingarzt Eufemiano Fuentes spanischen und kolumbianischen Kletterern mit Blutkonserven Flügel verliehen hatte. Zu Quintanas Ehrenrettung sei erwähnt, dass er nur ein Jahr beim schlecht beleumdeten Belda blieb und umgehend zum Nachwuchsteam Colombia es Pasión wechselte. Dessen sportlicher Leiter Luis Fernando Saldarriaga führte – eine Ausnahme in Kolumbien – freiwillig ein unabhängiges Monitoring der Blut- und Hormonwerte ein. »Wir wollen junge Rennfahrer technisch, taktisch und athletisch ausbilden, sie aber auch schützen. Dabei halten wir schon aus Respekt gegenüber den Fördermitteln eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Doping ein«, so Saldarriaga.

Bei den Rennen in Kolumbien, die noch Dopingveteranen wie Oscar Sevilla (einst Team T-Mobile) oder Ivan Parra (Kelme) dominieren, haben seine Youngster kaum eine Chance. In Europa aber schon. Quintana gewann vor 2010 die Tour de l’Avenir, das bedeutendste U23-Rennen. Er war damals sogar erst 20 und Präsident Juan Manuel Santos presste sich im Überschwang gleich selbst ins gelbe Siegertrikot.

Erwähnenswert ist der Sieg auch, weil es der wohl am stärksten besetzte Wettkampf seit Langem war und als »Rennen der goldenen Generation« in die Annalen einging. Doppelter Etappensieger neben Quintana wurde der Deutsche John Degenkolb. In Szene setzten sich auch Zeitfahrspezialist Taylor Phinney (USA), der Australier Michael Matthews, Gesamtführender in der ersten Woche des diesjährigen Giro, und der Pole Michal Kwiatkowski. Letzten schätzt sein Team Omega als noch stärker ein als den Giro-Zweiten Rigoberto Uran und nominierte ihn als Kapitän für die Tour de France.

Quintana, der beste von allen, musste sich noch in einer anderen Disziplin durchsetzen: im Kampf gegen Rassismus. Einige Kontrahenten aus Europa, Nordamerika und Australien setzten den Kolumbianern übel zu. »Sie wollten uns nicht vorn im Feld sehen, bremsten uns aus, schrien uns an«, erklärte Quintana einmal. Ein französischer Fahrer griff Quintanas Teamkollegen Jarlinson Pantano sogar in den Lenker und warf ihn vom Rad. Quintana beförderte daraufhin seinerseits den Franzosen in den Graben. In Anlehnung an eine unverwüstliche Comicfigur wird Quintana zuweilen »Naironman« genannt.

Mittlerweile haben die Fahrer aus dem globalen Norden die Lektion gelernt. »Sie haben jetzt mehr Respekt vor uns. Sie sehen, dass wir Rennen gewinnen«, meint Quintana beim Giro. Das neue Selbstbewusstsein machte ihn auch unempfindlich gegen die Anfeindungen nach der Etappe vom Stilfser Joch, obwohl die alte Rollenverteilung noch immer nicht ganz wegzudenken ist. So stellte ein User in der lebhaften Diskussion im Forum der »Gazzetta dello Sport« fest: »Wäre Vincenzo Nibali in Quintanas Position gewesen, wäre der Aufschrei nicht halb so groß.«

Negative Folge der Etappe bleibt jedoch, dass das Verhältnis zweier sich einst nahestehender Landsleute heftig getrübt hat. In seinem ersten Jahr in Europa teilte sich Quintana in Pamplona ein Haus mit Rigoberto Uran. Einer kochte, der andere machte den Abwasch. Und am Küchentisch schmiedeten sie gemeinsam Zukunftspläne. »Wir haben immer wieder davon geträumt, bei europäischen Rennen um den Sieg zu fahren«, blickt Uran zurück.

Jetzt sind diese Träume zwar Realität. Der Europa-Veteran Uran – er gewann bereits 2007 eine Etappe der Tour de Suisse – und der Youngster aus den Anden kämpfen um den Sieg bei der zweitwichtigsten Radsportveranstaltung. Doch ausgerechnet Urans Omega-Team forderte am lautesten eine Bestrafung Quintanas. Vor dem Giro hatten beide noch gesagt, dass es für den kolumbianischen Radsport wichtig sei, dass einer von ihnen den Giro gewänne. »Wenn ich es nicht sein sollte, dann wäre mir Rigoberto am liebsten«, sagte Quintana. Und Uran blickte gleich ganz forsch in eine goldene Kumpelzukunft: »In drei Jahren haben wir Kolumbianer alle drei großen Rundfahrten gewonnen.«

Momentan schält sich aus dem kollektiven Wir ein singuläres Subjekt heraus. Nairo Quintana ist dieses Triple ganz allein zuzutrauen. Völlig überraschend käme es nicht. Schon 2012 sprintete er auf der Königsetappe der Dauphiné kurz vor der Frankreich-Rundfahrt der versammelten Prominenz aus Ex-Toursieger Cadel Evans, dem designierten Toursieger Bradley Wiggins und dessen Nachfolger Chris Froome davon. Der Mai 2014 könnte ihn nun zum zweiten kolumbianischen Rundfahrtsieger nach Lucho Herrera (Vuelta 1987) machen. Dann wird sich Präsident Santos sicherlich auch ins frische rosafarbene Leibchen zwängen.

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