Die ausgehandelte Revolution

Wie es zum ersten Loch im Eisernen Vorhang und zum Dreieckstisch in Ungarn kam

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 6 Min.

In Budapest war es kein runder Tisch wie in Polen, sondern ein dreieckiger, an dem sich Vertreter der Partei- und Staatsführung sowie der Opposition am 13. Juni 1989 zusammenfanden. Was in Ungarn begann, sollte weitreichendere Folgen auch für die DDR haben als die Geschehnisse im Nachbarland Polen. Und mehr noch: In Ungarns Umbruch Ende der 1980er Jahre war angelegt, was heute Europas Demokraten entsetzt.

Nach dem ersten »Unternehmen Machtübergabe« zwischen April und Juni 1989 in Polen (s. »nd« v. 5./6. April) folgte Ähnliches in Ungarn. Das Land galt unter der 1956 begonnenen 22-jährigen Herrschaft von János Kádár als die »fröhlichste Baracke im sozialistischen Lager«. Was die Endachtziger Jahre betraf, eher zu Unrecht.

Schon 1983 gab es in Ungarn 16 000 Privatunternehmen mit 130 000 Beschäftigten, die die Hälfte der Dienstleistungen und ein Drittel der Agrarprodukte erwirtschafteten. 40 Prozent der Werktätigen ging regulären Nebentätigkeiten nach. 1987 schlug dann die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP) den Kurs zu einer effektiveren »sozialistischen Marktwirtschaft« ein. Dieser war verbunden mit sozialer Polarisierung und Arbeitslosigkeit, Subventionsabbau und Schließung unrentabler Betriebe. Die Importe westlicher Waren, Zinsen und Tilgungsverpflichtungen in Höhe von 19,6 Milliarden Dollar verschlangen alsbald drei Viertel des jährlichen Nationaleinkommens. Um den Forderungen des Internationalen Währungsfonds (IWF), dem Ungarn als einziges sozialistisches Land seit 1982 angehörte, nachzukommen, blieb dem radikalreformerischen Ministerpräsident Miklós Németh und seinem Wirtschaftsminister Rezsö Nyers nichts weiter übrig, als Mieten und Lebensmittelpreise um 35 bzw. 25 Prozent zu erhöhen.

Von den anderen staatssozialistischen Ländern unterschied sich Ungarn zudem durch weitgehende Freiheiten, politischen und geistigen Pluralismus. Linksliberale »Urbanisten« und rechtskonservative Populisten, zumeist Schriftsteller, Journalisten, Juristen, Historiker, Philosophen und Soziologen, schufen eine »zweite Öffentlichkeit«, die von den herrschenden Reformkommunisten toleriert und durch die in Ungarn legal wirkende Stiftung des exilungarischen Milliardärs George Soros finanziell gefördert wurde.

Im September 1987 fand in der Gemeinde Lakitelek unter Schirmherrschaft des Generalsekretärs der Patriotischen Volksfront lmre Pozsgay eine offene politische Debatte statt, an der 450 Intellektuelle teilnahmen. Der antisemitische Schriftsteller István Csurka attackierte die Kádár-Führung, durch Urbanisierung und Industrialisierung Wesen und Existenz des »Ungarntums« zu gefährden. Der Lyriker Sánder Csoóri warf der Regierung vor, sie missachte die Interessen der drei Millionen Ungarn in Rumänien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Die rechten Populisten gründeten die nationalistisch-konservative Sammelbewegung Ungarisches Demokratisches Forum (MDF), das sich an der westdeutschen CDU orientierte. Dagegen formierten sich 1988 linksliberale Dissidenten um den Philosophen János Kis und den Schriftsteller Arpád Göncz zum Bund Freier Demokraten (SZDSZ). Aus dem zerfallenden Kommunistischen Jugendverband KISZ entstand der Bund Junger Demokraten (FIDESZ) unter Viktor Orbán, geboren 1963. Zugleich gründeten sich rechtskonservative Parteien aus der Horthy-Zeit wieder, so die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP) und die Unabhängige Partei der Kleinen Landwirte (FKGP).

Nachdem Károly Grosz im Mai 1988 die Nachfolge des Generalsekretärs der Ungarischen Sozialistische Arbeiterpartei Kádár angetreten hatte, dominierten in der Partei die radikalen Reformer, die sich als Sozialdemokraten westeuropäischen Typs profilieren wollten. Auf dem ZK-Plenum im Februar 1989 verzichtete die MSZMP auf ihr Machtmonopol, bekannte sich zum Mehrparteiensystem, zu Versammlungs- und Pressefreiheit und orientierte auf ein »neues Modell des demokratischen Sozialismus«. Auch das offizielle Geschichtsbild wurde korrigiert: Die Ereignisse 1956 seien ein Volksaufstand und keine Konterrevolution gewesen. Bestätigt wurde das Konzept von Justizminister Kalmán Kulcsár zu eine grundlegende Veränderung der Verfassung von 1949.

Ungarns Radikalreformer forcierten auch den ökonomischen Systemwechsel: Gegen unrentable Großbetriebe sollten Konkursverfahren möglich sein, Staatsunternehmen und Genossenschaften in kapitalistische Gesellschaften umgewandelt werden, ausländisches Kapital sollte unbeschränkten Zugang erhalten.

Am 2. Mai 1989 wurde der Abbau der Grenze zu Österreich angekündigt. Die weltpolitisch weitreichendste Entscheidung folgte am 27. Juni 1989, als in einem symbolischen Akt die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, ein Loch in den Stacheldrahtzaun an der Grenze schnitten. Der von den Kameras der Welt festgehaltene historische Augenblick war von Ungarns Außenminister zur Aufbesserung des Prestiges seiner Partei wie auch seiner eigenen Person gedacht. Tatsächlich sollte Horn dafür später mit dem Aachener Karls-Preis und dem Sacharow-Preis der Europäischen Gemeinschaft belohnt werden.

Trotz all dieser Initiativen verweigerten die oppositionellen Eliten, die nunmehr energisch auf eine Teilhabe an der Macht drängten, vorerst noch offizielle Gespräche mit den gewendeten und gewandelten Kommunisten. Anlässlich des Jahrestages des Ausbruchs der ungarischen Revolution von 1848 riefen sie zu einer Großdemonstration am 15. März 1989 auf; 100 000 Menschen folgten dem Aufruf am gerade erst wieder zugelassenen Nationalfeiertag.

Am 23. März konstituierte sich ein Runder Tisch der Opposition, von dem die »Kommunisten« ausgeschlossen waren. Es sollten noch drei Monate vergehen, ehe man sich auf einen dreieckigen Tisch unter der Regie des Parlamentspräsidenten Mátyás Szürös einigte. An diesem saßen neben der Staatsmacht und den neun Parteien des Oppositionstisches auch die in der Patriotischen Volksfront Pozsgays vereinten Gewerkschaften sowie Frauen-, Jugend- und Veteranenorganisationen.

Zur Eröffnung der Verhandlungen am Dreieckstisch am 13. Juni 1989 im Parlamentsgebäude in Budapest verkündete Imre Kónya, Sprecher des Oppositionstisches: »Wir müssen jetzt friedlich die Aufgaben dreier unbeendeter ungarischer Revolutionen durchführen.« In den vierteljährigen Verhandlungen bis zum 18. September 1989 ging es jedoch nicht so sehr um die Vollendung der völlig unterschiedlichen Revolutionen von 1848/49, 1918/19 und 1956, die Kónya meinte, sondern vielmehr um ein Aushandeln der Modalitäten eines friedlichen Systemwechsels und um das Sichern der günstigsten Startbedingungen der verschiedenen Kräfte im Kampf um die Macht, also der noch herrschenden reformsozialistischen, der oppositionellen linksliberalen und der rechtskonservativen Eliten.

Am 18. Oktober 1989 beschloss das Parlament die am Dreieckstisch ausgehandelte neue Verfassung. Deren Präambel bestimmte: »Die Republik Ungarn ist ein unabhängiger, demokratischer Staat auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit, der die Werte der bürgerlichen Demokratie und des demokratischen Sozialismus gleichermaßen anerkennt. In der Republik gehört die Macht dem Volke.«

Da die Reformkommunisten Chancen hatten, mit dem nationalistischen Radikalreformer Pozsgay den künftigen Präsidenten zu stellen, forderten sie die sofortige direkte Wahl des Staatsoberhauptes. Dagegen initiierten die Freien Demokraten der SZDSZ im November 1989 einen Volksentscheid, in dessen Ergebnis die Parlamentswahlen erst im April 1990 stattfinden und der Präsident vom Parlament gewählt werden sollte. Das brachte vor allem den Linksliberalen von der SZDSZ Machtgewinn. Sie handelten als zweitstärkste Parlamentsfraktion (20 Prozent) mit dem Wahlsieger und neuen Ministerpräsidenten Jószef Antall vom nationalkonservativen Demokratischen Forum (MDF) aus, dass ihr Parteichef Göncz Staatsoberhaupt werde. Die zur Sozialdemokratie mutierte kommunistische Staatspartei, die den Systemwechsel eingeleitet hatte, wurde mit elf Prozent der Wählerstimmen in die Opposition geschickt - wobei zu bedenken ist, dass fast die Hälfte des Wahlvolkes dem Urnengang ferngeblieben war, der als erste freie, demokratische Wahl in Ungarn sowie in Osteuropa nach über 40 Jahren gefeiert wurde und wird.

Prof. Gräfe ist Osteuropa-Experte und Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN.

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