Polens Abhöraffäre zieht immer größere Kreise

Regierungsumbildung scheint unumgänglich, vorfristige Wahlen sind nicht mehr auszuschließen

  • Julian Bartosz
  • Lesedauer: 2 Min.
Die durch eine Abhöraffäre ausgelöste politische Krise in Polen verschärft sich. Ihr Ende ist nicht absehbar und überdies auch völlig offen. Eine Razzia in der »Wprost«-Redaktion verschärft die Situation zunehmend.

Wroclaw. Noch nie in seinen bisher sieben Amtsjahren hatte es Polens Regierungschef Donald Tusk so schwer wie jetzt. Schon die vor einer Woche im Magazin »Wprost« veröffentlichten Mitschnitte eines Gesprächs zwischen dem Nationalbankpräsidenten Marek Belka und Innenminister Bartlomiej Sienkiewicz mussten ihm innenpolitisch höchst peinlich sein. Die Veröffentlichung von Abhörniederschriften einer ziemlich unterhaltsamen Plauderei zwischen Außenminister Radosław Sikorski und dem ehemaligen Finanzminister Jacek Rostowski am Montag ist auch außenpolitisch äußerst brisant. Sikorski unterzog nämlich die Politik gegenüber den USA, die offiziell als bester Freund und treuester Verbündeter gelten, einer scharfen Kritik. Sie sei »wertlos« und sogar »schädlich«. Das aus Übersee zu erwartende Echo bereitet Warschau größte Sorgen.

Der Abhöraffäre folgte vorige Woche ein anderer Skandal. Um »den Gegenstand eines Rechtsbruchs« sicherzustellen, drangen Vertreter der Staatsanwaltschaft und Beamte der Agentur für Innere Sicherheit (ABW) in die »Wprost«-Redaktion ein. Sie wollten »sämtliches Material« über die Gesprächsmitschnitte im Nobellokal »Sowa & Przyjaciele« beschlagnahmen. Da der Chefredakteur die Herausgabe verweigerte, kam es zu stundenlangem Gerangel. Auf etlichen Fernsehkanälen beobachtete ganz Polen das vor zig Kameras laufende Ereignis und sah am späten Abend, wie die staatlichen »Einbrecher« erfolglos abziehen mussten.

Dazu gab es am nächsten Tag ein konfuses Duell zwischen Justizminister Marek Biernacki und Generalstaatsanwalt Andrzej Seremet. Der Minister nannte die Intervention gegen die Redaktion »unangemessen«, Seremet beharrte darauf, dass sie rechtens gewesen sei. So schob man die Schuld für die Blamage hin und her. Die polnischen Medien jedenfalls beziehen fast einheitlich Stellung gegen die Staatsmacht und berufen sich auf das Presserecht, sowohl was die Veröffentlichung selbst betrifft als auch den Schutz der Informationsquelle.
In der Öffentlichkeit sind verständlicherweise die Fragen nach der Quelle und der Motivation vorherrschend. Außer Spekulationen gibt es jedoch nichts. Eine »Sondereinheit« von ABW-Offizieren und Polizeifahndern suche intensiv nach Antworten, heißt es. Einer inoffiziellen Version zufolge gab es angeblich eine »Verschwörung von Kellnern«(!). Abgehört wurde nämlich in mehreren von prominenten Politikern und Geschäftsleuten frequentierten Nobelrestaurants.
Ob der schweigsame Premier Donald Tusk am Dienstag, wie vom Bund der Demokratischen Linken (SLD) gefordert, den Sejm informiert, ist ungewiss. Eine Regierungsumbildung scheint unumgänglich zu sein. Innenminister Sienkiewicz, der Dienstherr des ABW, ist blamiert, Außenminister Sikorski kaum noch tragbar. Oppositionsführer Jarosław Kaczynski fordert schnelle Neuwahlen, zuerst aber – um Fälschungen an der Urne vorzubeugen – ein »technisches Kabinett«. So läuft das, aber wohin, das ist momentan schwer vorherzusagen.
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