Kein Gestern und kein Morgen

Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Meine Erinnerung an die meisten Fußballspiele dieser WM ist löchrig wie das Maschennetz eines Tores. Bestenfalls hat sie die Konsistenz des weißen Sprays, mit dem die Schiedsrichter neuerdings bei Freistößen die Distanzlinie markieren, die von den Gegenspielern nicht überschritten werden darf. Im Moment des Geschehens ist sie scharf konturiert und deutlich erkennbar, schon wenige Sekunden später aber hat eine Geisterhand sie restlos wegradiert. Ich beneide deshalb die Leute, deren Gehirn funktioniert wie ein Videobeweis: Noch Monate, Jahre, Jahrzehnte nach einem Spiel können sie jede Szene aus ihrer kopfinternen Cloud abrufen, als seien es Youtube-Clips, bei denen unten im Bild ein exakter Timecode mitläuft.

Mein Sohn zum Beispiel. Der weiß bis heute die Entstehung jedes einzelnen der 145 Tore verbal zu rekonstruieren, die bei der WM in Südafrika gefallen sind. Er kann die teils schwer auszusprechenden Namen der beteiligten Spieler im Schlaf herunterbeten. Er weiß, in welchem Verein sie damals unter Sold standen und wo sie heute ihr Geld verdienen. Er kennt ihre Rückennummer, ihre Körperlänge, ihre Schuhgröße, ihre Sportwagenmarke und ihr Geburtsdatum. Dabei war er 2010 erst fünf! Um nicht der Depressionen zu verfallen, tröste ich mich über meine Vergesslichkeit mit der faden Ausrede hinweg, dass ich im Gegensatz zu meinem Sohn die vergangenen 48 Monate nicht damit zugebracht habe, mir die »Alle Tore der WM 2010«-DVD im Dauerdurchlauf zu Gemüte zu führen. Aber das ist Quatsch, denn meistens saß ich ja doch mit vor der Röhre.

Wirklich beruhigend finde ich, dass selbst die weltbesten Fußballer nicht vor der Amnesie gefeit sind. Das eindrucksvollste Beispiel dafür gab, wenn ich mich richtig erinnere, der uruguayische Verteidiger Alvaro Pareira ab. Bei der Partie gegen England rammte ihm sein Gegenspieler Raheem Sterling derart wuchtig das Knie gegen die Schläfe, dass er regungslos auf dem Rasen liegenblieb. Nicht nur die Zuschauer, auch die Mannschaftsärzte befürchteten das Schlimmste. Statt mit einer herkömmlichen Trage kamen sie mit einem offenen roten Plastesarg aufs Feld gerannt, in dem Pareira entsorgt werden sollte. Da regte sich plötzlich ein Funken Leben in dessen Gliedern. Gestützt von seinen Bestattern wankte er zur Seitenlinie. Als er dort die Augen aufschlug, hatte er komplett vergessen, was ihm soeben wiederfahren war. Wie ein Zweijähriger, dem man die Buddelschippe weggenommen hat, plärrte und fuchtelte er und wehrte sich so gegen seine geplante Auswechslung. Und noch ehe der Benommene richtig kapiert haben kann, wo er sich überhaupt befindet, bolzte Pareira selbst schon wieder einem Engländer die Gräten weg. So ähnlich geht es mir auch. Wenn ich irgendwo ein Fußballspiel wittere, kenne ich kein Gestern mehr und kein Morgen. Nur noch die pure Gegenwart.

Seit der Einführung der Torlinientechnik ist diese Gegenwart allerdings um einiges langweiliger geworden. Wo man ehedem den Moment einer strittigen Schiedsrichterentscheidung durch hitzige Schimpfkanonaden minutenlang ausdehnen konnte, bevor man ihn wieder vergaß, wird heute sofort eine schwer anzufechtende Computergrafik eingeblendet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auf »Goal Control« eine Technologie namens »Game Control« folgt, die auch im Falle einer fragwürdigen Abseitsposition, eines eventuellen Handspiels oder einer umstrittenen Elfmetersituation noch den leisesten Zweifel ausräumen wird. Schwer vorstellbar, dass sich irgendjemand an irgendetwas erinnern können wird, wenn Maschinen die Wahrheit komplett kontrollieren.

Vollständig vergessen habe ich übrigens das Spiel, das ich mir am frühen Sonntagabend gemeinsam mit meinem Sohn beim Public Viewing im Stadion an der Alten Försterei angesehen habe. Zum einen scheint es wirklich die bisher langweiligste Partie dieses Turniers gewesen zu sein. Zum anderen war ich total aus dem Häuschen, weil ich höchstpersönlich über den heiligen Rasen schlurfen durfte, auf dem ich sonst immer nur aus der Ferne die Helden des ruhmreichen 1. FC Union kicken sehe, und auf dem nun Hunderte von Sofas zum WM-Gucken rumstehen.

»Erst ein Mal in den 28 Jahren, die ich in dieses Stadion komme«, sagte ich zu meinem Sohn, »war mir dieses Glück vergönnt. Ich weiß bloß nicht mehr, wann das war.« - »Am 12. Mai 2001, Papa«, antwortete der wie auf Knopfdruck, »nachdem Union mit dem 5:0 durch zwei Tore von Teixeira, je einem von Isa und Nikol und einem Eigentor von Golowan den Aufstieg aus der dritten in die zweite Liga geschafft und man für euch Verrückte die Tore zum Spielfeld geöffnet hat.«

»Stimmt«, sagte ich und staunte. Das war dreieinhalb Jahre, bevor mein Sohn zur Welt kam; zuerst mit dem Kopf, dann mit den Füßen.

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