Die Masse macht’s

Wie Radler in einigen deutschen Großstädten versuchen, sich ein Stück Stadt zurückzuholen

  • Kim Alexander Zickenheiner, Köln
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Straßen gehören nicht den Autos allein: Das wollen Hunderte Fahrradfahrer regelmäßig zeigen, indem sie geschlossen durch deutsche Innenstädte fahren. Das kommt aber nicht bei allen gut an.

»Eine Unverschämtheit, das ist Freiheitsberaubung!« Ein älterer Herr starrt mit weit aufgerissenen Augen durch die Fenster seines Autos. Seine Ampel zeigt Grün, doch er kann nicht fahren. Zwei Fahrradfahrer versperren ihm die Durchfahrt an der Kreuzung, während 250 andere Räder passieren. Mehrere Minuten dauert es, bis sie alle vorbei sind. Fröhlich winken viele den blockierten Autofahrern und verdutzten Passanten zu.

Es ist ein Freitag um 18 Uhr in der Kölner Innenstadt - und die monatliche »Critical Mass« schiebt sich durch den Feierabendverkehr. Die Fahrradfahrer wollen sich mit dieser Aktion ein Stück Stadt zurückholen, sagen sie. Dafür nutzen sie einen Passus der Straßenverkehrsordnung. Der besagt, dass mindestens 16 Radfahrer einen geschlossenen Verband bilden können, der zusammenhängend fahren darf. Das bedeutet: Eine rote Ampel kann ihn nicht zerteilen.

Marco Laufenberg ist in Köln immer dabei. »Wir wollen zeigen, dass auch Fahrradfahrer zum Verkehr gehören. Den Autos gehört die Straße nicht allein«, sagt er. Kaum ist der Tross losgefahren, beginnt das Hupkonzert. Manche Autofahrer gestikulieren wild, andere blicken resigniert. Oder tragen es mit Fassung. »Wir sind ja nicht auf der Flucht«, sagt ein Mann in einem Van. »Genervt bin ich schon«, gesteht ein anderer. »Aber ich kann es ja auch nicht ändern.«

Sobald die Spitze des Zuges an eine Kreuzung kommt, schwärmen einzelne aus, um sich den wartenden Autos in den Weg zu stellen. »Korken« nennen sie das. Eine der Absperrenden ist Franziska Holfert, zum ersten Mal in Köln dabei. Sie kennt »Critical Mass« aus Hamburg, wo regelmäßig Tausende zusammenkommen. »Ich will helfen, die Gruppe abzusichern«, sagt sie. Die Aggressionen der Autofahrer hätten deutlich abgenommen, seit die Teilnehmerzahlen dreistellig seien, berichtet Laufenberg. Der Rekord in Köln habe im Mai bei rund 620 Fahrradfahrern gelegen. Auch in anderen Städten in Nordrhein-Westfalen gibt es regelmäßige Treffen, etwa in Düsseldorf, Essen, Dortmund, Bonn und Paderborn.

In Köln haben sich Familienväter mit Kinderanhänger, schicke Studentinnen, Umweltbewegte, Rentner und Büroangestellte zusammengefunden. »Alle verbindet das Radfahren«, sagt Laufenberg. Die Gruppe wolle sich nicht für politische Zwecke instrumentalisieren lassen. Tatsächlich herrscht die Atmosphäre eines lockeren Ausflugs. In gemächlichem Tempo führt die Spitze den Zug an, immer willkürlich in die eine Richtung oder die andere. Passanten filmen die Kolonne.

Die Kölner Polizei folgt dem Zug, als Demonstration ist er nicht angemeldet. »Wir waren zufällig da, sonst hätte es aber auch ein Kollege gemacht«, sagt einer der beiden Beamten. Probleme oder Streit habe er noch nie erlebt. Auch die Stadt Köln habe noch keine Beschwerden erhalten, so eine Sprecherin. Das Blaulicht scheint die Gemüter im Zaum zu halten.

Als Einzelner wolle er nicht provozieren, sagt Fabian Staben. Dass die Gruppe aufregt, müsse sie in Kauf nehmen - ohne Aufmerksamkeit keine Veränderung. Bei den Fußgängern kommt die Aktion auch deutlich besser an als auf der Straße. »Ich finde es großartig. Autofahrer müssen lernen, die Straße zu teilen«, sagt Kathleen Singleton mit Kamera in der einen Hand und Kind an der anderen. Selbst in ihrer Heimat Hawaii gebe es mittlerweile »Critical Mass«-Aktionen.

Vor einer Kneipe springt ein Mann auf. »Rot ist rot, machen Sie doch was«, ruft er den Polizisten zu. Einige Meter weiter winkt eine Frau und wünscht viel Spaß. Auf den Rädern ist man sich einig: Besser muss es werden in Köln, mit breiten, sicheren Radwegen auf der Fahrbahn. Die Fahrt hat aber noch einen anderen Grund: Sie macht Spaß. dpa/nd

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