Leben an der Revier-Riviera

Die wahre Bedeutung des Rhein-Herne-Kanals erschließt sich erst an Sommerabenden - in diesem Jahr wird er 100

  • Christoph Driessen, Oberhausen
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Rhein-Herne-Kanal durchs Ruhrgebiet wird 100 Jahre alt. An einem Sommerabend bevölkern Brückenspringer, Wasserpfeifenraucher und Abwasserröhren-Bewohner die Ufer - eine seltsame Welt.

»Ich springe!«, ruft Can. »Nein, warte noch!«, schreit Sven, »da kommt ein Schiff!« Gerade noch rechtzeitig. Can steht auf dem Geländer einer alten schwarzen Brücke im Zentrum von Oberhausen. Und jetzt sieht er es auch: Unter der Brücke kommt ein Schiff durch, ein ziemlich langer, ziemlich breiter holländischer Frachter. »O.k., ich warte noch. Aber direkt, wenn er vorbei ist, spring ich!«

Als der Frachter die Brücke gerade passiert hat, stößt Can sich ab. Passanten bleiben stehen, Fahrradfahrer stoppen. Can fliegt. Dann spritzt das Wasser auf - Can ist weg. Das war er, der Sprung von der Brücke in den Rhein-Herne-Kanal.

Kohle für die Kraftwerke der Region

Der heute 45,6 Kilometer lange Rhein-Herne-Kanal von Duisburg nach Herne wurde vor 100 Jahren eröffnet. Seine größte Zeit als Schifffahrtsweg erlebte der Kanal in den 1960er Jahren. Damals wurden jedes Jahr 22 Millionen Tonnen Ladung über den Kanal bewegt, hauptsächlich Kohle. Heute sind es noch 14 Millionen Tonnen.

Die Kohle wird jetzt nicht mehr aus dem Ruhrgebiet in die Welt, sondern von den großen Seehäfen zu den Kraftwerken im Revier transportiert. Auch werden andere Güter, etwa Chemieerzeugnisse und Öl, immer wichtiger. Daneben hatte der Kanal aber auch schon immer eine Bedeutung als Naherholungsgebiet.

Viele Ruhrgebietskinder haben dort schwimmen gelernt. Oft kletterten Schwimmer früher auch an Bord der vorbeituckernden Schiffe und fuhren ein Stück mit. Heute wäre das lebensgefährlich, da die Schiffe wesentlich größer sind und viel schneller fahren als früher. dpa/nd

100 Jahre ist er jetzt alt, dieser Rhein-Herne-Kanal, und deshalb kann man zurzeit viel über ihn lesen. Aber seine wahre Bedeutung als »Riviera des Reviers« erschließt sich nur an einem Abend wie diesem. Einem sehr warmen Sommerabend, der die Wasseroberfläche versilbert.

Can ist aus dem Kanal geklettert und kommt die Brücke raufgerannt. Das Wasser perlt von seiner Haut, die Badehose tropft. »Wie war der Sprung?« ruft er. Sven schreit etwas zurück, aber man versteht es nicht, denn jetzt donnert auf einer unmittelbar benachbarten Eisenbahnbrücke ein Güterzug über den Kanal, gefolgt von einer Straßenbahn auf einer anderen Brücke.

Es geht drunter und drüber am Kanal: Kaum ein anderer Wasserweg wird von so vielen Straßen und Gleisen gekreuzt. All diese Brücken sind mächtige Konstruktionen, so als sollten sie beweisen, dass es hier Eisen und Stahl noch immer im Überfluss gibt. Unsichtbar unter dem Kanal weiß man das verlassene Netz der Stollen und Flöze, Schächte und Streben - die Bergwerke des einstigen Kohlenpotts.

»Los spring auch mal!«, sagt Can zu Sven. »Trausse dich nich?« Can ist 17, Sven 14. »Wir sind Freunde«, sagt Can. Dabei kennen sie sich erst seit heute. Aber an so einem Sommertag am Kanal kann das schnell gehen. »Ich liebe das Brückenspringen«, schwärmt Can. »Einfach alles vergessen und springen. Wie ein Vogel.« Eigentlich ist es streng verboten, es drohen Strafen, und Can weiß auch, warum: »Einer, den mein Bruder kennt, der war 17, der war hier auf der Brücke und wollte den Dicken machen. Wie das so ist in der Gruppe mit mehreren Jungs. Und da ist er gesprungen und in den Sog einer Schiffsschraube gekommen. Tot. Deshalb zähl ich immer erst, wenn ein Schiff unten durch ist.«

Die Ufer des Rhein-Herne-Kanals sind eine Welt von wilder Romantik. Über den Brückenspringern ragt ein riesiger Stahlzylinder auf, einst Deutschlands größter Gasspeicher. Direkt daneben liegt ein beschaulicher Hafen voller weißer Jachten. Marcel und Stavros angeln dort nach Zander, Barsch und Aal. »Eigentlich dürfen wir hier nicht sitzen, aber gut...«

Schwimmen wird von der Wasserschutzpolizei toleriert, nur in der Nähe von Brücken, Schleusen und Häfen ist es verboten. »Wir sind in der DLRG (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft)«, sagt Lisa Jansen (17) und deutet dabei auf sich und ihren Bruder Lars (16). Was wohl heißen soll: Wir dürfen. Sie kennen die Stelle hier gut. »Ich weiß, dass da hinten ein Einkaufswagen auf dem Grund liegt«, erzählt Lisa. »Wir haben auch schon etliche Fahrräder rausgeholt.« Das Wasser ist klar genug, um beim Tauchen was zu sehen. »Nur die Hose riecht hinterher immer ein bisschen nach Kanal«, lacht Lisas Freund Marven (18).

Ein Stück weiter, im Stadtgebiet von Bottrop, gibt es am Kanal sogar Ferienwohnungen. Ferienwohnungen in ehemaligen Abwasserrohren, die man zu diesem Zweck auf eine Wiese gerollt hat. Jedes Rohr ist groß genug für ein Doppelbett. Oben ein Bullauge, vorn eine Tür, die sich abschließen lässt. Mit etwas Fantasie fühlt man sich drinnen wie in einer Hobbithöhle. Bezahlen muss man nur so viel, wie man will.

An diesem Tag gucken vier junge Frauen aus der Röhre. Der Blick geht auf einen Garten voller Gräser und Blumen, angepflanzt in einem früheren Klärbecken. Die Freundinnen haben die letzte Nacht hier verbracht. »Es war fantastisch«, erzählt Julia (30), noch immer umgeben von Kuchen- und Käseresten, einer leeren Weinflasche und einem schon vertrockneten Blumenstrauß in einem Plastikbehälter. »Abends ist es hier ganz still. Ab und zu hört man einen Güterzug, sonst nur Vögel und Grillen. Wir hatten ein Picknick bei Kerzenschein.« Dazu meinten sie von irgendeiner Kokerei her ein gespenstisches Licht zu sehen.

Noch ein Stück weiter Richtung Herne, im Nordsternpark von Gelsenkirchen, sitzen zwei Muskelprotze am Kanal, Robin (19) und Arash (17). »We're from England«, sagt Robin. Und ja, sie verbringen hier ihren Sommerurlaub. Robin ist schon öfter hier gewesen, für Arash ist es das erste Mal. Sie sind sich einig: »Es ist wunderbar hier.« Das Wasser, die Schiffe, die Sonne. »Wir sind aus Newcastle, das ist ziemlich weit im Norden. Bei uns wird's nie wärmer als 25 Grad.«

Wenn sie was trinken oder essen wollen, erklimmen sie einen Trampelpfad durch struppigen Uferbewuchs und stehen genau vor einer Imbissbude, in der es nahezu alles gibt. Gekühlte Getränke, aber auch heißen Kaffee, Currywurst und Pommes, Wassereis für fuffzig Cent und Sahnehörnchen mit Erdbeerstücken drin.

Neben der Bude sitzt ein Hund in einem Kinderwagen. Er habe es nicht so mit dem Laufen, erklärt seine Besitzerin Uschi (55), »aber wenn er den Kanal sieht, dann geht er ab wie Schmitz' Katze. Aber jetzt macht er gerade auf sterbenden Schwan.« Wobei der plattnasige, gedrungene Charlie an alle möglichen Kreaturen erinnern mag, nur nicht an einen Schwan. Gleich wird die blaue Stunde den blauen Himmel ablösen. In Oberhausen steigt weißer Rauch auf, doch er kommt nicht mehr aus Schloten und Kaminen, er stammt aus den Wasserpfeifen von Kevin, Niklas, Petros, Marvin und Nina. Manchmal, so erzählen sie, kommen alte Leute hier vorbei und fragen: »Nehmt ihr Drogen?« Dann bitten sie sie zu sich in die Runde und erklären ihnen alles. »Und viele alte Ömmakes probieren das dann und sagen hinterher: Hömma (Hör mal), dat schmeckt ja! Wo kriegt man so wat?«

Um diese Zeit kommen fast nur noch Jogger vorbei. Ansonsten glucksendes Wasser und in der Ferne das gleichmäßige Rauschen der A3. »Soll ich mal was sagen?«, fragt Kevin. Und dann sagt er es: »Das hier« - er zeigt um sich herum - »das verbindet die Gesellschaft.« dpa/nd

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