Das Strahlen von innen
Der Sinn regelmäßigen Röntgens auf Brustkrebs bleibt umstritten
Annegret S. geht regelmäßig zum Mammografiescreening. Die Berlinerin ist 66 Jahre alt, fühlt sich gesund und hat seit Jahren keine Frauenärztin mehr aufgesucht. »Seitdem es dieses Screening gibt, habe ich dazu nicht mehr so die Notwendigkeit gesehen«, erzählt sie. Nachdem sie im Januar zur Röntgenuntersuchung war, kam ein Brief. »Ich habe ihn gar nicht gleich aufgemacht, weil ich annahm, das wäre die Rechnung vom Screening, ich bin nämlich privat versichert«. Als sie schließlich zwei Tage später hineinschaut, bekommt Annegret S. einen Riesenschreck. Sie wird zu einer zweiten Vorstellung gebeten. Es gebe einen unklaren Befund. »Das war, als ob eine Welt zusammenstürzt. Jede denkt ja: Ich komme nicht dran, mich betrifft es nicht«, erinnert sie sich.
So oder ähnlich ergeht es jedes Jahr Tausenden Patientinnen. Momentan bekommen rund 72 000 Frauen im Jahr die gefürchtete Diagnose. 17 000 sterben nach Angaben des Robert-Koch-Institutes an Brustkrebs. Ziel der 2005 eingeführten Röntgenreihenuntersuchung für Frauen zwischen 50 und 69 war es, die Sterblichkeit zu reduzieren, indem man die Symptome früh entdeckt und schnell medizinisch intervenieren kann. Mit 50 Jahren steigt das Brustkrebsrisiko bei Frauen. Zudem wäre vorher eine Röntgenaufnahme wegen des dichteren Gewebes jüngerer Frauen nicht aussagekräftig genug. Im Jahr der Einführung des Screenings starben 17 455 Frauen an Brustkrebs, fünf Jahre später sind es 17 466. Die Zahl der Diagnosen war in der ersten Zeit sprunghaft angestiegen, weil vermutlich viele Erkrankungen entdeckt wurden, die sonst nicht oder erst später aufgefallen wären. An der Sterblichkeitsrate änderte das aber nichts.
Annegret S. stellt sich nach Erhalt der schockierenden Post erneut beim Arzt vor. Eine Ultraschalluntersuchung bestätigt den Verdacht auf Brustkrebs, und dann geht alles sehr schnell. Vom ersten Verdacht bis zur Operation in Berlin-Buch vergehen keine vier Wochen. Während der OP wird die offene Wunde gleichzeitig bestrahlt, Anschlussbehandlungen folgen. Ihre Brust bleibt erhalten, obwohl sie für den Fall größerer Schäden vor dem Eingriff ihr Einverständnis zur Entfernung gegeben hatte. »Ich bin Laie und muss mich auf die Ärzte verlassen«, sagt die ehemalige Geschäftsfrau, geübt im Kalkulieren und Abwägen von Vorteilen und Risiken. Die Debatte um das Screening, die von zunehmender Kritik geprägt ist, kann sie nicht verstehen. Weder sie noch ihr Arzt hätten den bösartigen Tumor in der linken Brust tasten können. Er sei nur durch das Screening entdeckt worden, und war zum Glück noch sehr klein. »Ich verstehe nicht, dass es Menschen gibt, die gegen diese Vorsorgeuntersuchungen sind. Das geht in meinen Kopf nicht rein«, resümiert Annegret S.
Ein Argument der Kritiker gegen das Mammografiescreening ist die große Zahl von Übertherapien und sogenannten falsch-positiven Befunden, bei denen die Patientin Tage voller Angst erlebt, ehe der Verdacht auf Krebs ausgeräumt wird. »Aber es ist doch eine solche Erleichterung, wenn einem gesagt wird, es ist nichts«, wendet Annegret S. ein. Als sich ihr Diagnoseverdacht im Winter bestätigt, traf sie eine Frau in ähnlicher Situation, die nach dem Arztgespräch freudestrahlend ihren Mann umarmt hat. Bestimmt habe die Glückliche das alles schnell vergessen.
In einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der LINKEN zum wissenschaftlichen Stand von Nutzen und Risiken des Mammografiescreenings nennt die Bundesregierung im August dieses Jahres »ihre« Zahlen, veröffentlicht durch die Kooperationsgemeinschaft Mammografie. Danach sind 5 Brustkrebstodesfälle vermieden worden, wenn sich 1000 Frauen innerhalb von 20 Jahren zehn Screenings unterzogen haben. 250 Befunde stellten sich als falsch heraus, 15 Tumore würden nicht entdeckt. In der Anfrage der LINKEN hatte man sich auf das Swiss Medical Board, einen schweizerischen Expertenrat, bezogen. Der hatte kürzlich davon abgeraten, Mammografiescreeningprogramme einzuführen. Bestehende seien zu überprüfen. Auch nach der »Canadian National Breast Screening Study« soll es keine Senkung der Brustkrebssterblichkeit durch das kanadische Screeningprogramm gegeben haben. Zitiert wird ebenfalls Prof. Dr. Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: »Es gibt gute Argumente dafür, dass das Screening ein bisschen etwas bringt. Und es gibt gute Argumente dafür, dass es nicht viel bringt. Wichtig ist für mich, dass wir bei dieser extremen Nähe von Nutzen und Nicht-Nutzen die Frauen adäquat und sorgfältig aufklären. Wir tun gut daran, solche Reihenuntersuchungen regelmäßig zu überdenken und eventuell neu zu justieren. Die Datenlage und die Evidenz ändern sich. Aber wir wissen aus der Wirtschaftspsychologie, dass es nicht leicht ist, die Investitionen in ein Unternehmen zu stoppen, für das man bereits sehr viel Geld ausgegeben hat.«
Das Unternehmen ist die Kooperationsgemeinschaft Mammografie. Gegründet 2003 von Kassenärzten und Krankenkassen, um in fünf Zentren bundesweit die Untersuchungen zu organisieren, Ärzte und Fachkräfte zu schulen und die Geräte zu zertifizieren. Auf ihrer Internetseite heißt es: »Im Mammografiescreening werden Karzinome sehr viel häufiger in einem frühen Stadium gefunden als vor Einführung des Screenings, während gleichzeitig die fortgeschrittenen Krebsstadien abnehmen. Rund 80 Prozent der entdeckten Karzinome sind kleiner als zwei Zentimeter, also in einem Stadium, in dem das Karzinom in der Regel noch nicht tastbar ist, und die Lymphknoten noch nicht befallen hat. Dies ermöglicht den betroffenen Frauen weniger belastende Therapien. Die Brust kann häufiger erhalten werden, eine Bestrahlung wird seltener erforderlich. Gleichzeitig sind Chemotherapien seltener notwendig und die Prognose ist oft besser.« Einer Studie zufolge habe die Rate an brusterhaltenden Therapien deutlich zugenommen, einen Anstieg der Brustamputationen gab es nicht.
Eine andere Studie zeige, dass ein hoher Anteil dieser im Screening entdeckten Krebsvorstufen dem gefährlicheren Typus zuzurechnen ist, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem invasiven, lebensbedrohlichen Brustkrebs entwickelt. Doch kann bislang nicht vorhergesagt werden, ob und wann das Karzinom in das umliegende Gewebe eindringt und Lymphknoten befällt oder in anderen Organen metastasiert. Deshalb wird nach medizinischen Leitlinien die Behandlung von Krebsvorstufen empfohlen. Einige Frauen erhalten daher eine Therapie, obwohl der Krebs zu Lebzeiten nicht lebensbedrohlich aufgefallen wäre. Im Klartext: Niemand weiß, ob er jemals entstanden wäre.
Auch Katrin Z. kennt diese Diagnose. Die heute 57-Jährige ging schon regelmäßig zur Mammografie, als es das Screening als Kassenleistung noch nicht gab. Ihre Mutter starb mit 56 Jahren an Brustkrebs und Katrin Z. ist kein Mensch, der den Kopf in den Sand stecken könnte. 1995 werden in ihrer linken Brust kleine Wucherungen entdeckt, der Fachmann nennt sie Ductal Carcinoma in Situ (DCIS). Sie gelten als Vorstufen für Krebs. Zwei Jahre später auf der rechten Seite ein Fibroadenom, eine gutartige Geschwulst. Später ein Keloid, eine Wucherung im Narbenbereich. Die Mutter zweier Kinder kennt sich bald gut aus in der Terminologie. Sie begibt sich in eine Spezialsprechstunde und wird alle sechs Monate untersucht, einmal mit einer Mammografie, einmal mit einer Sonografie. 2008 stellt sie zwischen diesen Untersuchungen selbst fest, dass eine Brust hart geworden ist und sich die Brustwarze nach innen zieht. Was dann folgt, prägt sich fest ein. Sie geht sofort zum Arzt. Die Röntgenaufnahme zeigt nichts Auffälliges. Die Sonografie lässt Zweifel aufkommen, eine Magnetresonanztomografie erhärtet den Verdacht. Die Biopsie, eine Gewebeprobe mittels Stanze, bestätigt: Es ist Krebs. Katrin Z. wird am 18. Dezember 2008 operiert, sie verliert die rechte Brust.
Sechs Jahre später bummelt Katrin Z. mit ihrem Mann durch ein Berliner Einkaufszentrum auf der Suche nach einem Kleid. Niemand würde für möglich halten, welche körperlichen Torturen die attraktive Frau hinter sich gebracht hat. »Ich hatte einen spinnennetzartigen Tumor (invasiv lobuläres Mammakarzinom), der sich durch die ganze Brust verbreitet und für eine Röntgenaufnahme nicht sofort sichtbar ist. Von 37 Lymphknoten wurden 33 entfernt, weil sie befallen waren«, erzählt sie. Es folgen Chemotherapien mit der schärfsten Dosis, 14-tägig. Irgendwann fallen die Haare aus. Katrin Z. lässt sich von ihrem Mann eine Glatze rasieren. Sehschwierigkeiten, schmerzende Knochen, Schwäche stellen sich ein. Sie braucht eine Bluttransfusion, denn es kommt ja noch die Bestrahlung. 28 Tage lang, immer 5 bis 6 Minuten. Sie bekommt eine Lungenentzündung, als Folge der Chemo- und Strahlentherapie stellt sich eine Schilddrüsenunterfunktion ein. Sie ist jetzt schon 78 Wochen krank geschrieben. Ihre kleine Firma in der Textilbranche muss sie aufgeben, zehn Mitarbeiter entlassen.
Die Medizinerin und Brustkrebsexpertin Prof. Bettina Borisch von der Universität Genf hält Screeningprogramme zur Früherkennung von Brustkrebs trotz aller Kritik für alternativlos. Im Gegensatz zum sogenannten »wilden Screening« hätten es die Frauen hier mit einer qualitätsgesicherten Untersuchung zu tun. Die Befunde würden doppelt begutachtet, von speziell für Mammografie ausgebildeten Radiologen mit entsprechender Erfahrung. Es würden alle Frauen in einer Altersgruppe angeschrieben und die Leistung habe einen festen Preis. Nach einer bestimmten Zeit könne man die Ergebnisse vergleichen und Verbesserungen überlegen. Borisch versteht auch Frauen, die sagen: »Mir geht es gut und bitte keine Medizin.« Allerdings seien nach ihrer Erfahrung die meisten Frauen nicht dieser Meinung. In Ländern wie Holland, Schweden oder Finnland gebe es Mammografie-Screening-Programme seit über 30 Jahren und sie würden weitergeführt.
Skepsis herrscht hingegen in den USA, wo Frauen jedes Jahr zum Mammografiescreening gehen. Nach einem Bericht der Fernsehjournalistin Ursula Sieber würden hier zwar immer mehr Tumore im Frühstadium entdeckt, aber die Zahl der lebensgefährlichen Tumore verringerte sich trotz Screening nur unwesentlich. Genau das wirft die Frage auf, ob bei der Früherkennung womöglich vor allem die »falschen« Tumore entdeckt werden, harmlos und langsam wachsend, und nicht die schnell wachsenden, die tödlich sein können, so Sieber. Der Grund könnte in der Tumorbiologie liegen: Aggressive, schnell wachsende Tumore hätten oft schon gestreut, ehe sie beim Screening entdeckt werden. Oder sie wüchsen so rasant, dass sie zwischen den Früherkennungsuntersuchungen auftreten.
Als bei Katrin Z. im Jahr 2010 auch in der linken Brust ein Fibroadenom diagnostiziert wird, von dem man nicht genau wissen kann, wohin es sich entwickelt, beschließt sie als »Hochrisikopatientin« kurzerhand, sich auch diese Brust abnehmen zu lassen - wie die US-Schauspielerin Angelina Jolie. Als sie nach Jahren schwerer Krankheit in den Beruf zurückkehren will, schildert sie in ihren Bewerbungen ehrlich ihre Situation. Doch anders als ihre berühmte Leidensgefährtin bekommt sie erst eine berufliche Chance, als sie ihre Teilbehinderung infolge der Amputationen verschweigt. Doch Katrin Z. ist eine Kämpferin. Ein paar Jahr nach ihrer ersten Operation steht sie für ein Buchprojekt über Frauen, die durch den Krebs ihre Brust verloren, vor der Kamera, und sagt: »Ich möchte anderen Mut machen, sich von dieser Krankheit nicht unterkriegen zu lassen. Schönheit ist Charisma, das Strahlen von innen.« Ein Jahr später läuft sie ihren ersten Halbmarathon.
Einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zufolge überschätzen viele Frauen den Nutzen des Screenings. Ein Drittel meine, sich durch die bloße Teilnahme vor Brustkrebs schützen könnten. Viele glaubten, dass pro tausend Teilnehmerinnen über 200 Sterbefälle verhindert werden. Das ist weit gefehlt - es wird gestritten, ob es sich um ein oder zwei Fälle handelt. Die Koalition will für bessere Information sorgen. Eine einheitliche Meinung der Experten, die verunsicherten Frauen die Entscheidung für oder gegen die Mammografie erleichtert, kann sie nicht herbeizaubern. So heißt es in einer Antwort auf die Anfrage der LINKEN, man wolle eine »Verbesserung der informierten Inanspruchnahme der Krebsfrüherkennung«. Dabei werde der informierten, freien Entscheidung zur Teilnahme der Vorrang gegenüber einer möglichst hohen Teilnahme eingeräumt. Von einem Paradigmenwechsel ist die Rede. Ob er tatsächlich kommt, wird sich zeigen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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