»Außer Raum Dresden«

Seit 60 Jahren auf Sendung: das »Deutsche Fernsehen«

  • Harald W. Jürgensonn
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Programm des »NWDR-Fernsehens« am 12. Juli 1950 war bescheiden. Nichts als ein Testbild flimmerte aus dem grauen Luftschutzbunker auf dem Hamburger Heiligengeistfeld. Schwarz-weiß, sprachlos, starr. Zuschauerquote: 100 Prozent. Einen Monat später beteiligten sich schon sechs Rundfunkanstalten am Projekt Heimkino, von Bremen und dem NWDR im Norden über Hessen, Baden-Württemberg bis Bayern im Süden. Als Namensgeber reichte immer noch der Nordwestdeutsche Rundfunk, auch als aus dem Standbild die ersten Sendungen bewegter Bilder wurden. Sich »Das Erste« zu nennen, war überflüssig - es gab nicht mal ein Zweites, geschweige denn Dritte oder gar Private. Sendezeit 20 bis 22 Uhr, das Publikum saß bis 1953 vor insgesamt 3000 gemeldeten Geräten. Bundespräsident Theodor Heuss orakelte in der ersten ausgestrahlten Neujahrsansprache zu Silvester 1952: »Jetzt wird auch bei uns das schwer begreifliche Zauberwerk des Fernsehens in das Bewusstsein treten.«

Und wie es trat: Im August 1954 gab es schon 40 000 Empfänger, und alle Sender, die unter dem sperrigen Namensdach »Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland« wohnten, wollten jetzt dabei sein. Ausgestrahlt wurde ab 1. November 1954 - auch in die DDR, zum Beispiel vom Ochsenkopf aus oder dem Sender Torfhaus im Harz. Weil das sogenannten »Westfernsehen« aber nicht überall hin reichte, wurde ARD im Elbtal, in Oberlausitz und Sächsischer Schweiz schnell mit »Außer Raum Dresden« übersetzt.

An diesem 1. November 1954, dem offiziellen Geburtstag des »Deutschen Fernsehens«, das sich erst 30 Jahre später »Erstes Deutsches Fernsehen« und ab 1996 schlicht und selbstbewusst »Das Erste« nannte, war’s noch wie der Inhalt einer Wundertüte, was den »Zuschauern draußen an den Geräten« in die Wohnzimmer kam. Aufnahmen aus den Fenstern eines skandinavischen SAS-Propellerflugzeugs: die erste Linienüberquerung der Polarroute, schwarz-weiß übers Ewige Eis. Dass an diesem Tag der Algerienkrieg begann, in Potsdam-Babelsberg die Deutsche Hochschule für Film und Fernsehen gegründet wurde - uninteressant. »Die Zuschauer« wollten weite Welt, heile Welt.

Im Kino lief der Hans-Hellmut-Kirst-Film »08/15«, die Geschichte des verschmitzten Gefreiten Asch, der seine Wehrmachtsvorgesetzten so vorführte, wie das nach 1945 viele getan haben wollten. Im Fernsehen liefen Fußball-WM und Thronbesteigung der Queen. Auslandskorrespondenten galten als weltläufige Universalerklärer, beim Internationalen Frühschoppen diskutierten sechs Journalisten bei Zigarette und Wein am Sonntagmittag die Weltgeschichte, und das Zweite hatte noch niemand auf dem Schirm.

Am 25. Juli 1960 wollten Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Justizminister Fritz Schäffer die Deutschland Fernsehen GmbH gründen, um am 1. Januar 1961 ebenfalls mit Sendungen zu beginnen. Das Bundesverfassungsgericht sah hierin einen Verstoß gegen das Grundgesetz. Um weitere Konkurrenzversuche zu unterbinden, startete die ARD selber ein zweites Programm und nannte es »ARD 2«. Gesendet wurde aber nur vom 1. Juni 1961 bis 31. März 1963 - zwischenzeitlich hatten sich die Bundesländer auf einen Staatsvertrag geeinigt, der die Gründung der im Gegensatz zur föderalistischen ARD zentral organisierten Anstalt »Zweites Deutsches Fernsehen« vorsah. Mit der ersten Sendung des ZDF am 1. April 1963 machte auch der Name »Erstes Deutsches Fernsehen« Sinn.

Seitdem hat sich der Sender mehrfach gehäutet, ist gewachsen - und trotzdem geschrumpft. Aus dem stilisierten magischen Scharz-weiß-Auge wurde im Lauf der Sendejahre das bunte ARD-Auge (1970), später das schlichte Logo mit der »1« (im Volksmund »Hackebeilchen«), und seit 2003 sehen wir »Das Erste« in »TheSerif«-Schrift. Gewachsen ist die Zahl der Mitarbeiter von einer Handvoll Pionieren im grauen Bunker auf über 20 000 in neun Landesrundfunkanstalten. Geschrumpft ist die Quote: Die Sehbeteiligung liegt meist im einstelligen Prozentbereich - außer bei Sport und »Tatort«.

Seit dem 1. November 1954 galt für die meisten Zuschauer: Was »Das Erste« verkündet, ist wichtig und richtig. Zumindest bei Letzterem haben sich Zweifel ergeben. Auch in den eigenen Sender-Reihen. Der ARD-Programmbeirat wirft in einer Stellungnahme den ARD-Redaktionen vor, wichtige und wesentliche Aspekte des Ukraine-Konflikts »nicht oder nur unzureichend beleuchtet« zu haben. Die Berichterstattung sei »nicht ausreichend differenziert« gewesen und »tendenziell gegen Russland und die russischen Positionen« gerichtet. Während der »Spiegel« diese Kritik als »ohne Beispiel in der ARD« wertet, weist Chefredakteur Thomas Baumann die Vorwürfe »energisch« zurück. Zum 60. Geburtstag darauf hingewiesen zu werden, nicht mehr das Meinungsmonopol zu haben, tut weh. Auch einem schwer begreiflichen Zauberwerk.

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