Ich verstehe die Lampionparade nicht

Sieben Tage, sieben Nächte: Tom Strohschneider über die Berliner Lampionparade und andere Merkwürdigkeiten zum Mauerfallgedenken

  • Lesedauer: 2 Min.

So ein Mauerfalljubiläum kommt nur einmal im Jahr vor, weshalb nun wieder umfangreiche Anstrengungen der Würdigung unternommen werden. Und weil heutzutage nur das als originell gilt, was bisher noch niemandem eingefallen ist, zeigt sich das allgemeine Mauerfallfeiern als eine illustre Ansammlung von bisher ungekannten Merkwürdigkeiten, die aufzuzählen sieben Tage und sieben Nächte nie und nimmer ausreichen würden.

Beginnen wir dennoch: mit einem Bekenntnis persönlicher Bockigkeit. Ich verstehe die Lampionparade nicht, die seit Tagen in Berlin entlang der ehemaligen Mauer aufgebaut wird. Was sollen 8000 leuchtende Ballons mir sagen? Es passiert direkt vor meiner Haustür, ich wurde nicht gefragt, es herrscht deswegen tagelanges Parkverbot und die Dinger sehen aus wie eine Mischung aus Weihnachtsbaumständer, Gymnastikstange und Ikealeuchte. Morgens stehen immer Männer in bunten Westen entlang der Leuchten herum und begutachten diese. Sind das die neuen Grenzer in ihrer Uniform? Ich verstehe das nicht. Und ich will das auch nicht verstehen. So.

Irgendwo habe ich gelesen, die »von Christopher Bauder und Marc Bauder entwickelte Installation ruft durch ihre emotionale visuelle Kraft die Dimension der Mauer in Erinnerung«. Weil die Grenze damals so gut beleuchtet war? Weil man sie einfach wie eine Lampe ausschalten konnte? Weil sie, heliumleicht, sich damals - »nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich« - ganz von selbst in den Himmel über Berlin verabschiedet hat? Verstehen Sie es?

Vielleicht ist ja auch meine emotionale visuelle Kraftempfindlichkeit gestört, seit ich gelesen habe, dass das Ostseeheilbad Zingst jetzt eine Konferenz unter dem Motto »25 Jahre Mauerfall - 25 Jahre wiedervereinigte deutsche Heilbäder und Kurorte« abhält. Angela Merkel ist dort, offenbar ist sie auch die oberste Verantwortliche aller deutschen Heilbäder. Je öfter man das Wort schreibt, desto grusliger wird es. Heilbäder. Heil-Bäder.

Apropos. In Berlin hat eine Sparkasse am Brandenburger Tor ein Banner angebracht, um an den Mauerfall zu erinnern: ein langes rotes Banner, darauf ein weißer Kreis mit einer Inschrift. Solche Fahnen hingen auch vor 1945 schon dort, nur die Aufschrift war eine andere. Die Idee war so originell, dass die Sparkassen-Mauerfall-Jubiläumsbeflaggung inzwischen wieder abgenommen wurde.

Aber zurück zur Zingster Konferenz. Dort soll es darum gehen, wie diese Heilbäder »im zunehmenden Wettbewerb mit ausländischen Konkurrenten« bestehen können. Eine denkbare Möglichkeit wäre natürlich, eine Mauer um alle wiedervereinigten Kurorte zu bauen. Aber das wird Angela Merkel dort bestimmt nicht vorschlagen. Eine andere: Man lässt an den »wiedervereinigten deutschen Heilbädern« Tausende leuchtende Ballons aufstellen. Das gibt es bei den »ausländischen Konkurrenten« bestimmt nicht.

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