So lebten die Dichter

Sergej Gandlewski: Warten auf Puschkin

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Buchumschlag ist schön: Durch Schnee läuft ein Kind oder eine zierliche Frau an einem Gebäude vorbei, das eine Schule oder eine Behörde darstellen könnte und das - woran sieht mans eigentlich? - irgendwie »russisch« aussieht. Aber darüber hat der Verlag eine Banderole in Orange gelegt: »Der meisterhafte Roman des populärsten russischen Dichters der Gegenwart.« Mag irgendein Journalist so eine unsinnige Wertung verzapft haben im Wahn, er könne bestimmen, wer der Populärste ist, allein dem Foto des Autors sieht man ja schon an, dass er für solch eine Benennung nur ein verächtliches Lippenzucken übrig hätte. Berühmt möchte er vielleicht sein, aber »populär« und noch dazu in der Gegenwart? Nein, die Trauer, die über dem Text liegt, kommt auch daher, dass Dichter zu sein heute längst nicht mehr so aufregend ist wie zu früheren Zeiten im sowjetischen »Untergrund«. Da Sergej Gandlewski einst mit seinen Freunden zusammen im Samisdat veröffentlichte, dürfen wir annehmen, dass er mit der schillernden Hauptgestalt des Romans manches aus eigener Erfahrung offenbart. Es könnte natürlich auch eine Abrechnung mit einem Bekannten sein, überglänzt von seiner eigenen Melancholie. Wobei Lew Kriworotow - sein Name bedeutet übersetzt »Schiefmaul« - auch nicht der Kritik preisgegeben wird. Er darf auf Verständnis zählen - in seinen jugendlichen Verfehlungen ebenso wie in seiner späten Resignation. Der Originaltitel lautet »NRSB«. Das ist die Abkürzung für »ne rasobrano« - ungeklärt bzw. ungeordet. Etwas bleibt Fragment, kann nur teilweise erhellt werden, darauf stellt sich der Leser bei »NRSB« ein. »Warten auf Puschkin« klingt da schon geschmeidiger. Ein Versprechen, dem innewohnt, dass Puschkin natürlich nicht erscheint, um den Literaturbeflissenen ein Licht aufzustecken. Aber warum Puschkin? Warum nicht Lermontow, dessen Stimmung Gandlewski doch viel näher ist? Weil Puschkin hierzulande »populärer« ist? Solcherart Marketingspielchen mögen nicht darüber hinwegtäuschen: Den größten Genuss an diesem - vorzüglichen - Roman hat ein Leser, der vom Literaturbetrieb in der UdSSR schon irgendeine Vorstellung hat. Und Insider erst! Wer weiß, was und wen alles sie wiedererkennen. Ein Schlüsselroman könnte es für sie sein, der voller Enthüllungen steckt. Ein Genuss - und eine Heidenarbeit - war es wohl für den Übersetzer, deutschen Lesern dieses feine literarische Gewebe zu präsentieren, ohne es zu zerreißen. Zehn Seiten Anmerkungen können nur einen Eindruck davon geben, wie dicht hier die literarischen Anspielungen gesät sind. Und wer glaubt, der Autor wolle uns so nur seine imponierende Belesenheit vorführen, der hat es immer noch nicht verstanden: Der Roman spielt in einem literarischen Milieu, in dem man genauso denkt und spricht. Ein Leben in geistigen Bedeutungszusammenhängen, wie man sie in Deutschland so ausgeprägt nicht kannte. Die Dichtkunst der Vergangenheit: Gegenwart. Und die hoffnungsvollen jungen Literaten der 70er Jahre Zeitgenossen einstiger Genies. »So lebten die Dichter«, hieß es in Alexander Bloks Gedicht 1908 und 1971 in einem populären Lied von Alexander Galitsch. Wie lebten sie wohl? Ganz eingesponnen in ihre Gedankenwelt und, wenn sie jung waren, in den Rausch ihrer Zusammenkünfte. Sowjetische Bohème. Lew Kriworotow ist zwanzig. Er wäre gern ein Genie und lebt die romantische Liebe. Zunächst, sehr leiblich, mit Arina, einer Dichterin, die mehr als doppelt so alt ist wie er. Dann mit Anja, einer kühlen jungen Blonden, die ihn nicht an sich ran lässt. Und das ist schon fast das ganze Drama. Das Übrige - die Vorleseabende im Souterrain, zu denen dann sogar ein Berühmter kam, der Dissident Tschigraschow, der im Lager gesessen hatte - ist fast nur Begleitmusik. Aber dann wird es ernst: Die Gruppe provoziert den Staat mit einer Publikation im Selbstverlag, die auch im Ausland erscheint. Oder haben die entsprechenden Behörden die jungen Künstler provoziert? Wer mag wohl wie »zusammengearbeitet« haben? Arina wird des Landes verwiesen. Nach dem Ende der UdSSR wird Kriworotow sie zu seinem Erstaunen bei einer internationalen Tagung in einiger Vertrautheit mit jenem Mann antreffen, der ihn beim KGB verhörte. Der Vernehmer gab sich als Literaturwissenschaftler aus und ist es wohl wirklich. Und was hat Kriworotow damals zu Protokoll gegeben? Fast wie von einem Abenteuer hat er Tschigraschow davon erzählt Am selben Tag steckte sich Tschigraschow die Pistole in den Mund Starb wie Puschkin, Chlebnikow, Majakowski, Rimbaud »im für die Unsterblichkeit prädestinierten« 37. Jahr. Romantisch, wäre da nicht die Frage der Schuld. Verratene und Verräter - wer ist wer? »NRSB«, urteilt ironisch der Autor. Und der gepriesene Moskauer Untergrund? Bestenfalls »Zwischendüngung des kulturellen Bodens«. Aber wofür? Kriworotow scheint es, als sei er als 20-jähriger Schnösel auf freiem Feld eingeschlafen und als 50-Jähriger in einer winzigen Stadtwohnung aufgewacht. Dazwischen lag der Untergang einer Welt - nicht nur der Sowjetunion, dachte ich mir beim Lesen, auch der des 19. Jahrhunderts, die in der UdSSR fortlebte. Ob Puschkin, Lermontow, Tolstoi, Dostojewski, Mandelstam, Blok - die »populären Dichter« von morgen sind aus anderem Holz geschnitzt. Sergej Gandlewski: Warten auf Puschkin. Roman. A. d. Russ. v. Andreas Tretner. Aufbau-Verlag. 215 S., geb., 17,90 EUR.
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