Heimat, Seele und Gewissen

Alexander Solshenizyn: Prosaminiaturen

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.
Erst 1956 wurde er rehabilitiert - nach acht Jahren Lager und drei Jahren Verbannung wegen einiger kritischer Äußerungen über Stalin in Briefen, die Alexander Solshenizyn als Artilleriehauptmann in den letzten beiden Kriegsjahren mit seinem besten Freund »Koka«, dem Infanterieoffizier Nikolai Witkewitsch, ausgetauscht hatte. Im Sommer 1957 ließ er sich in Rjasan nieder, wo er in einer Schule Mathematik und Astronomie unterrichtete. Seiner Krebserkrankung, die einen Rückfall gebracht hatte, ging er mit einer Chemotherapie und verschiedenen Volksheilmitteln zu Leibe. Wie ihm damals zumute war, kann man sich vorstellen, wenn man die 1958 entstandene Miniatur »Das Atmen« liest, in der Solshenizyn nach einer Regennacht unter einem Apfelbaum steht und gierig den Duft der Blüten und Gräser einatmet: »Das ist vielleicht die einzige Freiheit, die einzige zwar, aber die wertvollste, derer uns das Gefängnis beraubt - so zu atmen, wie man hier atmen kann.« 17 Miniaturen schrieb er von 1958 bis 1963, konnte sie damals in Russland aber nicht veröffentlichen. Eine erste deutsche Übersetzung erschien 1965 im Frankfurter Possev-Verlag. Die meisten Texte haben die Landschaft um Rjasan als Hintergrund, deren Sanftmut der Autor rühmt - den Fluss Oka, Jessenins Geburtsort Konstantinowo oder die stillen Weiten des Dorfes Lgowo, das sich der Dichter Polonski als letzte Ruhestätte auserkor. Doch der Mann, der gerade seine Freiheit wiedererlangt hat, genießt nicht nur die unberührte Natur. Er warnt auch vor ihrer Zerstörung, kritisiert den barbarischen Umgang mit uralten Kirchen und Klöstern, fordert einen Gedenktag für die Gefallenen und prangert den »Landesfürsten« an, der einen See für seine »Brut« eingezäunt hat. Die frühen Miniaturen, in denen ein winziges Entenküken, eine gefällte Ulme, Wasserspiegelungen und erfrischende Gewitter zu »Helden« werden, stammen aus der Zeit, in der Sol-shenizyn an den Texten arbeitete, die die Welt aufhorchen ließen und davon überzeugten, dass die russische Literatur nicht gestorben war: »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« und »Matrjonas Hof«. 13 Miniaturen entstanden von 1996 bis 1999. Nach 20 Jahren erzwungener Trennung lebte Solshenizyn wieder in Russland. »Als ich über Sibirien aus dem Exil nach Russland zurückkehrte«, heißt es in der kleinen Geschichte von der Uglitscher Glocke, die einmal bestraft und nach Tobolsk verbannt wurde, weil die Uglitscher sich gegen die Mörder des Zarensohnes wandten und mit der Glocke vor den Wirren warnten. Im Mai 1994 darf Solshenizyn die Glocke schlagen - und sieht darin ein Gleichnis: Wie jener Glöckner von Uglitsch wird er in einer neuen »Zeit der Wirren« die Alarmglocke läuten! Von dieser - erhofften, aber nicht eingelösten und im heutigen Russland wohl auch nicht einlösbaren - Mission künden mehrere Texte. Besonders heftig quält Solshenizyn das Gefühl, »sich für sein Heimatland schämen zu müssen! Sich zu schämen, weil sein Schicksal in den Händen von Leuten liegt, die seine Existenz bedenkenlos und habsüchtig len- ken ... Weil das Leben seines Volkes im Zerfall und Niedergang begriffen ist ...«. In diesen Geschichten sind im Kern jene Gedanken enthalten, die sich in Solshenizyns Denkschrift von 1998 »Russland im Absturz« wiederfinden. Die Sprache der Miniaturen ist lakonisch, sucht aber beharrlich nach Allegorien und Gleichnissen, die das offen didaktische Anliegen des Autors bildhaft vermitteln. Da steht die Lärche als Sinnbild für ewigen Neuanfang und menschliche Charakterstärke oder mahnt der Blitzschlag, der eine Linde trifft, den strafenden Schlag des Gewissens an. Entgegensetzungen von Russischem und Sowjetischem, Ideellem und Materiellem. Seele und Körper wiederholen sich stereotyp. Der deutsche Buchtitel stammt aus einem poetischen Lob der Ruhe und Klarheit des frühen Morgens. Sehr viel Nachdenkenswertes findet man in den Texten, die das Altwerden oder den Tod thematisieren. An solchen Stellen reichen Solshenizyns »Krochotki« (wörtlich wäre der russische Titel mit »Brosamen« oder »Krümel« zu übersetzen) an die große russische Tradition der Miniaturen heran, die man bei Turgenj...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.