Das alte Hemd des Professors

Uni Konstanz setzt sich mit SS-Karriere eines einst verehrten Wissenschaftlers auseinander

  • Holger Reile, Konstanz
  • Lesedauer: 4 Min.
In Konstanz machte sich Hans Robert Jauß einen Namen als Literaturtheoretiker. Erst kurz vor seinem Tod wurde seine SS-Vergangenheit bekannt. Jetzt wurde dazu ein Theaterstück aufgeführt.

Am 19. November war das Audimax der Universität Konstanz so gut besucht wie sonst wohl nur bei ganz besonderen Vorlesungen. Bühnenautor Gerd Zahner, im Hauptberuf Rechtsanwalt, stellte sein neues Stück vor: »Die Liste der Unerwünschten«. Ein brisanter Stoff, der sich mit Hans Robert Jauß (1921-97) beschäftigte.

Jauß war ein weltweit angesehener Romanist und Literaturtheoretiker, dazu Mitbegründer der einflussreichen Forschungsgruppe Hermeneutik und Poetik. Ab 1966 lehrte er an der neu gegründeten Universität Konstanz. Sein Name ist eng verbunden mit der »Rezeptionsästhetik«, die das Verhältnis zwischen Leser und Werk in den Mittelpunkt stellt und die Literatur nicht isoliert betrachtet. Ein für damalige Zeiten revolutionärer Ansatz, der ihm den literaturwissenschaftlichen Durchbruch und internationale Anerkennung bescherte. Seine SchülerInnen verehrten Jauß.

Erst in den 1990er Jahren erschienen in überregionalen Medien Berichte, die sich mit der Nazi-Vergangenheit von Jauß beschäftigten. Sie wiesen nach, dass er bereits als 24-jähriger den hohen Rang eines Hauptsturmführers bei der Waffen-SS inne hatte. Der Konstanzer »Südkurier« verteidigte ihn gegen alle Kritik von außen und schrieb anlässlich seines 75. Geburtstages: »(…). Es fehlte dabei nicht an Versuchen, den ehemaligen Obersturmführer der Waffen-SS, der für persönliche Tapferkeit unter anderem mit dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet worden war, über den Vorwurf einer vermeintlichen nationalsozialistischen Vergangenheit hinaus auch in seiner wissenschaftlichen Reputation anzugreifen.«.

Gerd Zahner trieb das Thema schon lange um. Er begab sich auf Spurensuche und fand heraus, »dass Jauß an einer Junkerschule unterrichtet hat und Chef einer Inspektion war, die damals nichts anderes tat, als in rascher Zeit SS-Offiziere ideologisch und waffentechnisch für den Krieg vorzubereiten«. Für den Autor ein ganz wichtiger Punkt: »Schule als Waffe, die Universität als Waffe. Somit haben wir den Bogenschlag zur Gegenwart - und daraus erwächst meines Erachtens die Aufgabe für die Universität Konstanz, diese Problematik aufzuarbeiten.« Jauß, das brachten die Nachforschungen ebenfalls zutage, war auch federführend bei der Ausbildung von französischen und wallonischen Freiwilligen, die in die Waffen-SS integriert wurden. Im Militärarchiv in Freiburg stieß Zahner dann auf die Liste der »Unerwünschten«. Mehr als hundert Freiwillige, so Zahners Recherche, »wurden als nicht tragbar für die SS festgestellt. Darunter Homosexuelle, Juden oder sogenannte Defätisten. Sie wurden 1944 als Gefangene in das Konzentrationslager Stutthof überstellt.«

Zahner machte sich an die Arbeit und schrieb sein Stück. Regie führte Didi Danquart, Jauß´ Rolle übernahm der Schauspieler Luc Feit, der Freiburger Komponist Cornelius Schwehr lieferte die Musik. Und so kam es letzte Woche zu einer etwas anderen Antrittsvorlesung an gleicher Stelle, wo 1967 Jauß seine Antrittsvorlesung hielt. Der Titel damals: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«. Der Titel heute: »Die Liste der Unerwünschten«.

Feit alias Hans Robert Jauß blickte zurück auf seine Zeit als hochdekorierter Nazi-Ideologe, rechtfertigte und relativierte sie: »Von den Judenverfolgungen habe ich später nur im Radio gehört.« Fröstelnd durfte man erleben, wie sich da einer kurz nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes seiner Haut entledigte, sie abstreifte wie ein durchgeschwitztes Hemd und fast nahtlos den Übergang schaffte hin zu einer wissenschaftlichen Karriere. Symbolische Klage darüber hub darüber an, dass man ihn, die Galionsfigur der Konstanzer Universität, Jahrzehnte später mit einer Sache belästige, die doch schon so lange her sei. Jauß - ein SS-Henker, der vielleicht sogar persönlich an Kriegsverbrechen beteiligt war?

Bewiesen ist Letzteres bislang nicht. Nach rund einer Stunde war der letzte, beklemmende Satz gelesen. Kurze Stille, dann starker Applaus. Reihum aber auch betroffene Gesichter, beredtes Schweigen, vor allem bei ehemaligen Studenten, die einst an Jauß´ Lippen hingen und auch heute noch nicht glauben wollen oder können, dass ihr Idol vom Sockel geholt wird.

Bei der anschließenden Diskussion kam auch der Historiker Jens Weste-meier zu Wort. Ihn hat die Universität Konstanz beauftragt, eine wissenschaftliche Biografie für den Zeitabschnitt 1939 bis 1945 zu erstellen, die den ideologischen Unterbau von Jauß beleuchtet. Mit seinem Gutachten ist im Frühjahr zu rechnen. Westemeier lobte Zahners Stück, wollte aber seiner Endbeurteilung nicht vorgreifen. Nur soviel: »Jauß wurde als Angehöriger einer verbrecherischen Organisation verurteilt, aber nicht als Kriegsverbrecher.« Dann der Zusatz: »Was aber nicht heißt, dass er keiner war.«

Den Schlusssatz formulierte ein Zuhörer, der sogar aus Frankreich angereist war, weil er erfahren hatte, dass das Stück nur einmal aufgeführt werden sollte. Er habe Jauß als Student erlebt und ihn bewundert. Nun aber habe ihm die Lesung die Augen geöffnet. Dafür sei er dankbar: »Der lange Weg hat sich gelohnt.«

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