Donezker Weihnacht im Keller

Die Kiewer Zentralmacht verweigert der Ostukraine alle Sozialleistungen und hofft wohl auf Hungeraufstände

  • Ulrich Heyden, Moskau
  • Lesedauer: 6 Min.
Nachts sinken die Temperaturen in der Ostukraine auf minus 18 Grad. Vor beschädigten Häusern kochen Anwohner ihr Essen gemeinsam.

Großes Gedränge vor den Banken in Donezk. Seit Montag erhalten die Menschen in den Filialen der neu gegründeten »Zentralbank der Volksrepublik Donezk« Renten und Kindergeld. Kiew hatte die Rentenzahlungen schon im Juli eingestellt. Mitte November wurde die Einstellung aller Sozialtransfers in die »okkupierten Gebiete«, also die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk, zu Ende November von Kiew auch offiziell verkündet. Wie viele Menschen in den »Volksrepubliken« leben, weiß niemand so genau. Nach unterschiedlichen Schätzungen sind es vier bis 5,2 Millionen Menschen. Hunderttausende sind geflüchtet.

Kiew scheint darauf zu hoffen, dass in der Ostukraine angesichts der sozialen Notlage nun Hungeraufstände gegen die von der Zentralmacht »Banditen und Terroristen« genannten Führungen ausbrechen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko erklärte Sonntagabend im TV-Interview, in »den okkupierten Gebieten« gäbe es bereits »Massenproteste gegen die Banditen«. Beweise hatte er nicht. Der deutsche Korrespondent Moritz Gathmann berichtete das Gegenteil: »Momentan überwiegt die Wut auf Kiew.«

Eine etwa 45 Jahre alte Frau in dunklem Winterpelz erklärte dem russischen Reporter, sie stehe wegen Kindergeldes an. Die Wartenden mussten sich in Wartelisten eintragen. »Meine Nummer ist 272. Ob ich Kindergeld bekomme oder nicht, weiß ich nicht. Vielleicht heute, morgen oder übermorgen. Wenn ich nicht auf der Liste stehe, muss ich eine Erklärung unterschreiben und bekomme das Geld dann in zehn Tagen.«

Die neu gegründete Donezker »Zentralbank« zahlt auf Anweisung des »Republik«-Oberhauptes, Aleksandr Sachartschenko, 500 Griwna (26 Euro) Kindergeld, pro Waisenkind umgerechnet 118 Euro und 52 Euro Altersrente. Das ist für einen Monat nicht viel, aber wenigstens eine kleine Hilfe.

Die Tagestemperaturen in Donezk liegen zur Zeit bei sechs Grad Minus. Nachts sinken sie auf Minus 18 Grad. Der stellvertretende Minister für Sozialpolitik der Donezk-»Republik« Sergej Timofejew kündigte am Mittwoch die Einrichtung von Räumlichkeiten an, in denen Bedürftige kostenlos verpflegt werden, wo sie sich waschen, kostenlos medizinische Hilfe bekommen und sich aufwärmen können.

Die Nationalbank der Ukraine hat die Bedienung der Konten in den von Aufständischen kontrollierten Gebieten in der Ostukraine Ende November eingestellt. Die Geldautomaten wurden abgeschaltet. Die Regierung in Kiew hatte schon seit dem Juli keine Renten mehr überweisen lassen. Am 4. November fasste der ukrainische Sicherheitsrat dann auch offiziell den Beschluss, in den von Aufständischen kontrollierten Gebieten keine sozialen Leistungen mehr zu zahlen.

Der ukrainische Präsident begründet die Verweigerung der Zahlung für Sozialleistungen damit, dass es in den »okkupierten Gebieten« faktisch kein Bankensystem mehr gebe. Die Banken würden von den »Banditen« ausgeraubt. Auch dafür fehlten allerdings die Beweise. Nestor Schufritsch, Abgeordneter der Werchowna Rada, will die Entscheidung des Sicherheitsrates vor dem Obersten Gericht der Ukraine anfechten. Sie »stimuliert die separatistische Stimmung in unserem Land«, erklärte der Vertreter des Oppositions-Blocks.

Nur Gas und Strom liefert die Zentralukraine noch in den Osten des Landes. Allerdings hat das Energieministerium in Kiew alle seine Unternehmen in »den okkupierten Gebieten« angewiesen, ihre Tätigkeit einzustellen. Ob die Behörden in den »Volksrepubliken« in der Lage sind, die Energieversorgung ohne Unterbrechung aufrechtzuerhalten, wird sich in diesen Tagen zeigen. Wegen eines »technischen Defektes« in einem Elektrizitätswerk in Lugansk fiel bereits die Stromversorgung in einem Teil der Region aus.

Wie die »Iswestija« berichtete, werden die Finanzexperten der Donezk-»Republik« von Finanzexperten der von Georgien abgespalteten Republik Abchasien beraten. Der Moskauer Politologe Aleksej Makarkin vom Moskauer Zentrum für politische Technologie erklärte im September gegenüber der »Njesawisimaja Gazeta«, allein mit dem Verkauf hier geförderter Kohle könnten die »Volksrepubliken« ihre Ausgaben nicht decken. Deshalb müsse »Russland die Volksrepublik Donezk finanziell vollständig unterstützen«.

Im gesamten Donbass wurden durch Beschießungen 567 Infrastrukturobjekte wie Schulen, Kindergärten und Wasserleitungen zerstört, erklärte am Montag der stellvertretende Leiter des Zentrums zur Wiederherstellung des Donbass, Igor Bilodid, gegenüber der Nachrichtenagentur Ria/Nowosti. 67 Objekte seien wiederhergestellt worden. Es gebe aber ein großes Defizit an Baumaterialien und Benzin. Bilodid erklärte, besonders von Beschießungen betroffen seien »nicht Privathäuser, sondern Wasserleitungen, Gasleitungen und Objekte der Fernwärmeversorgung sowie Pumpstationen.« Wenn die Reparaturtrupps ausrücken, um die Leitungen zu flicken, »riskieren sie ihre Leben«.

Allein in der Donezk-»Republik« müssen 3800 Wohnhäuser repariert werden. Doch wie in Grosny 2001 oder Stalingrad 1943 sieht es in Donezk nicht aus. Es ist keine Trümmerwüste. Aber in vielen Plattenbauten klaffen große Löcher von den Artilleriegeschossen der ukrainischen Armee. Manche Familie mussten in Keller umsiedeln und werden dort wohl auch Weihnachten verbringen.

Das Leben geht weiter. Trotz alledem. Dort wo Küchen oder Gasleitungen durch Bomben zerstört sind, haben Anwohner vor den Plattenbauten Gemeinschaftskochstellen gebaut. Unter freiem Himmel wird da gekocht, und nach dem Essen geht es in den Keller, wo die Notbetten stehen und die Kinder mit den Katzen spielen. Nicht alle Schulen sind geöffnet. Doch viele Kinder gehen ganz normal zur Schule. Viele sitzen aber auch im Keller, weil sie in Gebieten wohnen, wo immer mal wieder ukrainische Granaten landen.

Die einzige sichere Versorgung mit Lebensmitteln läuft zurzeit über die ukrainisch-russische Grenze. Am Wochenende wurde der neunte humanitäre Hilfskonvoi mit über 100 Lastkraftwagen aus Russland mit Lebensmitteln, Medikamenten und Baumaterial in den Städten Lugansk und Donezk entladen. In den Städten werde die humanitäre Hilfe ordentlich verteilt, berichteten Flüchtlinge aus Donezk, die jetzt im Moskauer Umland leben. Doch auf den Dörfern sei es schon schwieriger. Dort finde man Güter aus der humanitären Hilfe oft nur noch in den kleinen Lebensmittelläden, wo sie dann wie ganz normale Waren verkauft würden.

Lebensmitteltransporte, die aus der Ukraine kommen, organisiert von Privatpersonen oder Sponsoren wie dem Donezker Oligarchen Rinat Achmetow, werden an der Frontlinie oft von ukrainischen Sicherheitskräften beschlagnahmt, berichtete der Transportminister der Donezk-»Republik«, Semjon Kusmenko, gegenüber Radio Komersant FM.

Dass die Menschen in der Ostukraine vom Hunger bedroht sind, scheint NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nicht zu kümmern. Er stellte in Frage, dass es sich bei den russischen Konvois um humanitäre Hilfe handelt. »Die beste humanitäre Hilfe wäre es, das Minsker Abkommen einzuhalten«, erklärte der Chef der Militärallianz.

Der Eisenbahnverkehr zwischen Donezk und Kiew war zu Wochenbeginn auf Anweisung aus Kiew eingestellt worden. Der Gütertransport per Eisenbahn sei noch in Betrieb, erklärte der Donezker Transportminister Semjon Kusmenko. Die großen Unternehmen Metinvest und DTEK hätten Interessen auf beiden Seiten der Front und würden ihren Einfluss bei den Behörden geltend machen, um »pro-amerikanische Anweisungen« abzumildern, so Kusmenko.

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