Mit einem Fluch auf den Lippen

In Kriegen geht es nie um Frauen und Kinder. Gedanken zum sich verabschiedenden Jubiläumsjahr

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Mein Vater war 1914 Kriegsfreiwilliger und zuletzt bei der Luftaufklärung an der Vogesenfront, nahe der Industriestadt Mülhausen, wo er sich in eine junge Arbeiterin verliebte. Am 7. Mai 1918 (die Märzoffensive geht in die achte Woche) schreibt sie dem 24-Jährigen: »Mir träumt, Du wärest zu mir gekommen, Abschied zu nehmen, denn ihr kämet alle nach Frankreich in die Front, und da hast Du mich so todestraurig angesehen, wie wenn Du sagen wolltest: ›Wir werden uns wohl nie mehr sehn.‹ Und da habe ich meine Arme um Deinen Hals gelegt und geweint, ganz fürchterlich. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so geweint … Wie froh und glücklich ich aber war, dass es nur ein Traum gewesen, das kann ich Dir nicht beschreiben.«

Unbegründet war die Sorge nicht. Peter Scherer, mein Onkel, schreibt am 23. September 1918 seinem Bruder aus Nordfrankreich: »Was ich von der augenblicklichen Lage halte, möchtest Du wissen. Ich glaube eben, dass es immer noch eine schöne Zeit dauert, bis wir einen Frieden bekommen können, und wenn ich bis dahin meinen Kopf behalte, will ich zufrieden sein.«

»Bei Ausbruch des Krieges …« ist eine gängige Redewendung. Ein Krieg bricht aber nicht aus. Er wird von Menschenhand begonnen. Im Aufruf des Vorstandes des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) vom 8. August 1914 an die Mitglieder heißt es: »Wie ein Blitz aus heiterem Himmel ist nun doch der unselige Krieg, dessen Vermeidung sich die Besten unseres Volkes stets angelegen sein ließen, über uns hereingebrochen.« Nein, der »unselige Krieg« war alles andere als ein unverhoffter Gast.

Jahrzehnte schon existierte der »Weltkrieg« als Begriff. Zuletzt hatte August Bebel im September 1911 auf dem Parteitag der SPD in Jena die Ausmaße des drohenden Krieges umrissen: »Und nun stellen sie sich den Krieg selbst vor, mit der ungeheuren technischen Entwicklung seit 1870, den Millionenheeren hüben und drüben, den Repetiergewehren, den Schnellfeuergeschützen, den Maschinengewehren, mit den modernen Sprengstoffen usw.« Die Internationalen Sozialistenkongresse von Stuttgart 1906 und Basel 1912 hatten klare Beschlüsse gefasst. In der Julikrise ’14 nach dem Attentat von Sarajewo bekundeten die arbeitenden Menschen in ungezählten Kundgebungen ihre Ablehnung einer Politik, die sehenden Auges auf einen Krieg zusteuerte. In allen größeren Städten wurden Entschließungen verabschiedet, so auch am 29. Juli 1914 in Nürnberg, damals eine Hochburg der SPD: »Die Sozialdemokraten erkennen in den Kriegstreibereien die egoistischen Machenschaften des großen Kapitalismus, der Rüstungsindustrie und zahlreicher anderer, mit ihr aufs Innigste verflochtenen kapitalistischen Interessen. In ihrer Friedensliebe weiß sich die Versammlung eins mit allen Arbeitern und Arbeiterinnen Deutschlands, aber ebenso Frankreichs und Russlands, Österreich-Ungarns und Italiens, Großbritanniens und der Balkanländer. Durch hunderte Kundgebungen ist diese Stellung festgelegt.« Das hätte als Orientierung, als Marschzahl genügen müssen. Aber der SPD-Vorstand hatte offenbar einen anderen Kompass als einfache Mitglieder und Funktionäre.

Zwischen dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg und dem Nürnberger Reichstagsabgeordneten Albert Südekum (SPD) gab es seit längerem Kontakte. Diesen Draht nutzte der Kanzler, um die Haltung des SPD-Vorstandes im Falle eines Krieges zu sondieren. Er lädt seinen Gewährsmann zu einem vertraulichen Gespräch. Südekum soll ohne viel Förmlichkeiten ausloten, was der Vorstand darüber denkt. Hoch erfreut über so viel »Vertrauen« macht sich jener auf den Weg und trifft in ihren Büros die Herren Ebert, Braun, Müller, Bartel und Fischer in Berlin an. Man setzt sich zusammen … Anschließend kann Südekum den Kanzler mit Schreiben vom 29. Juli 1914 beruhigen: »Bei der dann folgenden Aussprache erhielt ich zunächst die Bestätigung meiner Bemerkung, dass - gerade aus dem Wunsche heraus, dem Frieden zu dienen - keinerlei wie immer geartete Aktion, General- oder partieller Streik, Sabotage und dergleichen, geplant oder auch nur zu befürchten sei.« Beiläufig lässt Südekum ausrichten, man werde wie gewünscht auf die Parteipresse einwirken, mit dem Ziel »zweideutige Äußerungen« zu vermeiden. Der Kanzler teilt daraufhin dem preußischen Staatsministerium mit: »Auch von der Sozialdemokratie und dem sozialdemokratischen Parteivorstand ist nichts Besonderes zu befürchten.« Von einem Generalstreik werde keine Rede mehr sein.

Fritz Fischer bemerkt 1961 in seinem Werk »Griff nach der Weltmacht«: »Ohne die SPD und die von ihr geführte Arbeiterschaft war der Krieg nicht zu führen.« Richtiger wäre wohl: ohne die an der Nase herumgeführte Arbeiterschaft.

Knapp vier Jahre später, am 28. Januar 1918, treten die Berliner Arbeiter in den Streik. Die Arbeitsniederlegungen breiten sich rasch über das ganze Reich aus. Vertreter der SPD-Führung würgen jedoch den Streik nach sieben Tagen ab. 1924 rechtfertigt sich Philipp Scheidemann vor Gericht gegen den Vorwurf des Hochverrats: »Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären, dann wäre der Krieg und alles andere schon im Januar erledigt gewesen … Durch unser Wirken wurde der Streik bald beendet und alles in geregelte Bahnen gelenkt. Man sollte uns eigentlich dankbar sein.« Seine Aussage ist ungeheuerlich. Im Durchschnitt starben noch bis November 1918 an allen Fronten 6000 Soldaten pro Tag.

Als im Oktober 1919 die Delegierten zur 14. ordentlichen Generalversammlung des DMV in Stuttgart zusammentreten, ist der Krieg verloren - und die Revolution auch. Aber noch immer waltet Alexander Schlicke seines Amtes als Vorsitzender. Zur Eröffnung gedenkt er der 26 000 Mitglieder, die »für ihre Überzeugung« gefallen seien. Robert Dißmann, der Führer der Opposition im DMV verwahrt sich: »Nein, sie fielen nicht für ihre Überzeugung. Mag ein Teil von ihnen mit ins Grab genommen haben den Lug und Trug und Schwindel, dass sie der Verteidigung des Vaterlandes dienten, ein großer Teil jener Männer hatte bei dem Tod auf den Schlachtfeldern den Fluch auf den Lippen, den Fluch ob der Verbrecher, weil sie schon erkannt hatten, dass sie hinausgeschickt waren, nicht um Heimat, Frau und Kinder zu verteidigen, sondern den Geldschrank, und dass sie geopfert wurden im Interesse der besitzenden Klasse.«

Dr. Peter Scherer, Jg. 1943, langjähriger Leiter der Zentralbibliothek der IG Metall, ist Herausgeber historischer Quelleneditionen und Autor von Monografien zur Arbeiterbewegung.

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