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Utopien mit dem Bleistift erdacht

Mit «WChUTEMAS» lädt der Martin-Gropius-Bau zu einem retrospektiven Einblick in das berühmte Moskauer Labor der Moderne

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Dynamische Verschachtelungen, auskragende Bauten und Wolkentürme - die vom Moskauer Architekturmuseum arrangierte Ausstellung zeigt, wie man mit dem Bleistift architektonisches Denken lernen konnte. Kein Computer half den Avantgardisten der frühen Sowjetzeit beim Ausbrüten ihrer architektonischen Visionen. Zweihundertfünfzig Skizzen und Entwürfe von Studenten und ihren Lehrern, Diplomarbeiten und Wettbewerbsbeteiligungen sowie einige Modelle geben einen spannenden Einblick in das berühmte Labor der Moderne und vermögen allein schon ob der zeichnerischen Qualität zu begeistern. Erst recht, wenn man sich den enormen Anschub vorstellt, den die vom Bildungsministerium in Moskau gegründete Lehranstalt WChUTEMAS - das Kürzel steht für «Höhere Künstlerisch-technische Werkstätten» - auf dem Gebiet von Kunst und besonders Architektur bedeutete.

Nach «Baumeister der Avantgarde» ist es die zweite Ausstellung, die der Martin-Gropius-Bau gemeinsam mit dem Schtschussew-Museum für Architektur in einem kurzen zeitlichen Abstand ermöglichte. Es ist ein Bogen, der zu den 20er Jahren führt, als die fortschrittliche Welt mit Neugierde und Begeisterung auf das postrevolutionäre Moskau schaute. Man spürt aus den Entwürfen den Elan einer Architektur, die Freiraum beansprucht und Raum unter dem Aspekt grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen analysierte.

Man muss einem Quadrat nur wenige Zentimeter Seitenlänge hinzugeben, so erhält es eine innere Dynamik, erklärt per Video der Kunsthistoriker Vladimir Kostin. Es entsteht eine spannungsreiche Form. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts lernte man, die Geometrie der Architektur auf neue Weise dienstbar zu machen. Denn es ging nicht allein um eine zweckdienliche Dreidimensionalität, nicht um Stilrezeption, sondern vor allem um die mitreißende Emotionalität gestaltgewordener Bewegung, darum, die Gefühle des Neuen auf die Straße zu tragen, sei es als Dekor zum Oktoberjubiläum, sei es als Arbeiterkantine oder Wohnhaus. So rief es der Kulturkommissar und Bildungsminister, Anatoli Lunatscharski, den Architekten zu und warnte gleichzeitig vor einem «tabula rasa» gegenüber Vorhandenem.

Mit der kleinen Buntstiftzeichnung «ShiwSkulptArch» von 1920 untersucht Nikolai Ladowski «die architektonische Erscheinung eines Gemeinschaftshauses». Ein Wohnkomet beim Abheben, der die ästhetische Himmelsstürmerei bezeugt. Und überhaupt Ladowski: Der Professor für Architektur gilt als ein Vordenker, der den Studenten «Mittel und Wege der Raumanalyse» auf gestaltpsychologischer Grundlage vermittelte und dafür ein Präpedeutikum einrichtete. Mit Tusche werden Masse und Gewicht von Volumen, Rhythmus und Farbwirkungen durchdekliniert oder die geometrischen Eigenschaften eines Parallelopids erkundet. An seiner Seite hatte er Mitstreiter wie Alexander Rodtschenko (1891-1956), von dem hier das fragil-gewagte Modell «Räumliche Konstruktion» als Nachbildung zu sehen ist.

Selbst ein Bahnwärterhäuschen und andere Kleinarchitektur wie etwa Tribünen oder Kioske für die Moskauer Innenstadt künden als aufgeschnittener Zylinder oder mit konstruktivistischen Schalendächern vom Schwung der jungen Architekten. Umso überraschender mag dem Besucher die Herkunft studentischer Arbeiten aus einer traditionell akademischen Ausbildung erscheinen, bei der Tempelformen und Akanthusblätter aus Folianten kopiert wurden. Die auf Workshops basierende WChUTEMAS entstand aus der Zusammenlegung verschiedener Kunstinstitute mit einem neuen Lehrkonzept und dem programmatischen Anspruch, dass alle Künste sich unter der Ägide der Architektur gegenseitig befruchten sollten.

Die WChUTEMAS verfügte über acht Fakultäten samt den entsprechenden Produktions- bzw. Kunstwerkstätten und galt als Pendant des von Walter Gropius gegründeten Weimarer Bauhauses, unvergleichbar allerdings in der Dimension: 2000 Studenten (gegenüber achtzig am Bauhaus) waren in der Moskauer Kunstschule schon im ersten Jahr ihrer zehnjährigen Existenz (1920-1930) eingeschrieben. Das Labor der Moderne, selbst im steten Wandel begriffen, avancierte zur Kadermaschine. Zu den Lehrern gehörten El Lissitzky, Ljubow Popowa, Alexei Schtschussew (der zunächst als Monumentalist eingegangene Architekt des Leninmausoleums und des Hotels Moskwa), weiter Warwara Stepanowa, Wladimir Tatlin, der Konstruktivist Alexander Wesnin, Moisej Ginsburg und Alexander Melnikow, der 1925 auf der Weltausstellung in Paris den Hauptpreis für den sowjetischen Pavillon erhielt.

WChUTEMAS gilt als Ort, an dem die Avantgarde entstand. Man wollte mit Hilfe von Kunst und Architektur den «Neuen Menschen» formen. Es ging um nichts Geringeres als um die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft, die neben der städtischen vor allem durch eine bäuerliche Kultur und immense Weite sowie durch die Zerrüttungen des Bürgerkriegs geprägt war. Der GOELRO-Plan, auf den die Architekten, wie es etwa der feierliche Entwurf für ein Zementwerk von Alexander Burows belegt, begeistert reagierten, schob die Industrialisierung und damit große Bauvorhaben voran. Alles schien möglich, und die Euphorie des Maschinendenkens - der Mensch als Maschine bei Kandinsky oder Le Corbusiers Wohnmaschine - wurde auf seine rationalistische Spitze getrieben.

Dabei war die Avantgarde kein Einheitsstrom, sondern wurde von verschiedenen Ansätzen, vor allem denen der Rationalisten und Konstruktivisten, gespeist. Das Novum: Studentische Diplomarbeiten wurden für reale Projektierungen angefertigt. Dazu gehörte «Der Landsitz in Ostankino-Gartenstadt» oder so ein imposantes Projekt wie «Das Stadion auf den Sperlingsbergen». Hierfür lieferte 1922 Nikolai Kolli den Entwurf mit einer Vielzahl von Bauten von einer Pferderennbahn bis zu einem Theater rechts und links der Moskwa, der allerdings unrealisiert blieb.

Viele der utopischen Ideen sind in die internationale Architektursprache eingeflossen, andere - wie fliegende Städte, die im Kosmos dahin treiben - erzählen als Visionen von menschlicher Raumerweiterung.

WChUTEMAS, später zum Institut WChUTIN und mit stärkerer Fokussierung auf ingenieurtechnische Aufgabe umstrukturiert, arbeitete zwar für den zeitnahen Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft, hatte aber vor allem Grundlagenforschungscharakter mit großer Reichweite und zunehmend kritischer Reflexion. Noch aus dem Jahr 1929 stammt die Zeichnung einer auf sieben gestapelten Hochhäusern basierenden Megastruktur für ein Kolumbus-Denkmal in Santo Domingo von Nikolaj Ladowski.

Ein Jahr später wurde das Institut geschlossen und bald darauf die Architektur vom stalinistischen Zuckerbäckerstil abgelöst.

«WChUTEMA»(1920-1930«, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7. Bis 6. April, Mi-Mo, 10-19 Uhr, Eintritt 10, Katalog 20 €. www.gropiusbau.de

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