Große Not in einem gelähmten Haiti

Fünf Jahre nach dem Erdbeben ist das Land weiter auf Hilfe angewiesen

  • Olaf Standke
  • Lesedauer: 3 Min.
Fünf Jahre nach dem Erdbeben in Haiti bleibt die Lage desolat. Beim Wiederaufbau werden die Ärmsten oft Opfer von Willkür und Gewalt, warnen Hilfsorganisationen.

Als am 12. Januar 2010 in Haiti die Erde bebte, waren die Folgen verheerend. Über 220 000 Menschen kamen ums Leben, über 300 000 wurden verletzt, mehr als zwei Millionen obdachlos. Die Erdstöße der Stärke 7,0 legte den verarmten Karibikstaat buchstäblich in Schutt und Asche. Der Rückversicherer Swiss Re schätzte die Schäden 2011 auf zehn Milliarden US-Dollar - damals etwa 7,2 Milliarden Euro.

Die Schuttberge sind allmählich aus den Straßen der dicht besiedelten Hauptstadt Port-au-Prince, dem Zentrum des Bebens, verschwunden. Viele der 1,3 Millionen Menschen, die danach auf Zelte angewiesen waren, haben dank der weltweiten Hilfsaktionen wieder bessere Unterkunft gefunden. Bei einer Geberkonferenz in New York sagten Dutzende Staaten fast zehn Milliarden US-Dollar Hilfe zu. Allerdings sollen nach Angaben der Regierung Haitis bisher nur vier Milliarden eingegangen sein. »Ein Teil des versprochenen Geldes wurde nicht ausbezahlt«, bestätigt auch US-Journalist Jonathan Katz, der ein Buch über das Erdbeben und seine Folgen geschrieben hat. »Viel Geld wurde für kurzfristige Nothilfe am Anfang ausgegeben«. Anderes versickerte im Land. Kritiker beklagen, dass die Unterstützung vielfach unkoordiniert erfolgte.

So konstatieren Menschenrechtler fünf Jahre nach der Katastrophe eine andauernd schwere Lage der meisten Haitianer. Die seit Oktober 2010 landesweit grassierende Cholera-Epidemie macht die Situation dabei noch dramatischer. Während in Petionville, dem teuersten Viertel der Hauptstadt, moderne Hotels, Bürohäuser und Villen in Rekordzeit aus dem Boden schossen, lebten noch immer über 85 000 Menschen in provisorischen Zeltlagern, so Amnesty International. Nach UN-Schätzungen sollen es rund 100 000 sein. Ihre Bedingungen seien »schrecklich«. So habe rund ein Drittel der Betroffenen keine Toilette. Besonders die Kinder litten unter den Umständen, betont die Kindernothilfe in Duisburg. Nur jedes vierte im Grundschulalter besuche eine Schule, jedes dritte sei unterernährt. Auch für die etwa 4000 Haitianer, die durch das Erdbeben Gliedmaßen verloren, gibt es kaum Hilfe. Es fehlen Spezialisten, die Prothesen bauen und den Amputierten zeigen, wie man sie benutzt.

Seit 2010 seien zudem über 60 000 Menschen Opfer von Zwangsräumungen geworden, kritisiert Amnesty. Oft würden die Flüchtlinge mit Gewalt vertrieben, nicht nur durch private Grundbesitzer, auch durch Behörden. Etwa ein Viertel der Bewohner von 123 Notlagern sei zur Zeit gefährdet. Insgesamt würden die Ärmsten bei den Bemühungen um Wiederaufbau häufig nicht berücksichtigt, klagt Amnesty-Expertin Chiara Liguori. Zu viele Maßnahmen seien lediglich kurzfristig gewesen. So habe die Regierung etwa nur vorübergehend einen monatlichen Mietzuschuss gewährt, um Flüchtlinge aus den Zeltstädten zu holen.

Weit über die Hälfte der Haitianer lebt heute in Armut und muss mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. Jeder Zweite ist unterernährt. Vor allem fehlt sauberes Trinkwasser. Das Gesundheitswesen liegt am Boden. Über 40 Prozent sind arbeitslos, etwa 60 Prozent Analphabeten. Fünf Jahre nach dem Beben brauche das Land endlich »nachhaltige Lösungen«, fordert Liguori. »Man hat unseren Vorschlag aus der Zivilgesellschaft ignoriert, eine autonome Behörde für den Wiederaufbau zu gründen«, beklagt der bekannte haitianische Filmemacher Arnold Antonin. So hängt der Inselstaat weiter am Tropf ausländischer Entwicklungshilfe. »Wir wollen die haitianische Regierung dabei unterstützen, eigene tragfähige Konzepte für die dauerhafte Entwicklung des Landes zu finden«, erklärt deshalb Dirk Guenther von der Welthungerhilfe

Doch Haiti das steckt auch in einer schweren politischen Krise. Zehntausende gingen in den vergangenen Wochen in wütenden Protesten auf die Straße und verlangten endlich demokratische Wahlen. Weil sich Regierung und Opposition nicht auf die Zusammensetzung der Wahlkommission einigen konnten, kann seit fast vier Jahren auch kein neues Parlament bestimmt werden. Ministerpräsident Laurent Lamothe wurde Mitte Dezember bereits aus dem Amt gejagt; nun soll es Politveteran Evans Paul richten, wie Staatschef Michel Martelly am Wochenende mitteilte. Am heutigen Montag endet die Legislaturperiode. Wird der Streit nicht endlich beigelegt, müsste das Land per Dekret weiterregiert werden.

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