Die Seele, nackt

Jean-Philippe Toussaint ist weiter auf der Suche nach Marie

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass zwei Menschen sich verlieben und sich trennen, einander wiederfinden und erneut auseinandergehen -, es kommt auch in Wirklichkeit vor und ist, zumindest für eine/einen von ihnen fatal. So schlimm kann es werden, dass man ihr/ihm raten müsste, ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorzuziehen. - Aber Jean-Philipp Toussaint hat aus solch einer Konstellation eine Prosa gemacht, so hochliterarisch, dass sie das Reale transzendiert.

»Nackt« ist schon das vierte Buch über die schwierige Beziehung des Ich-Erzählers zu Madeleine Marguerite de Montalte, einer ambitionierten Künstlerin, die als Frau die widersprüchlichsten Eigenschaften in sich vereint. Der Hilfe bedürftig und zurückweisend, feenhaft schwebend und willensstark, zupackend ungestüm und in sich verschlossen. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Es besteht kein Zweifel, dass der Ich-Erzähler seine immer wieder entschwindende Geliebte idealisiert.

Zarteste Gefühle, als käme der Autor aus einer fernen Zeit, als die Damen noch Hüte und Handschuhe trugen und Männer sich schon freuten, mal den Blick auf einen weiblich-schlanken Fuß zu erhaschen. »Nackt«, wie es der Titel verspricht, werden wir Marie hier auch nicht erleben. Nackt ist auf den ersten Seiten des Buches ein 17-jähriges Topmodel. Marie hat dem Mädchen ein Kleid aus Honig verpasst. Zur Inszenierung gehört auch ein Bienenschwarm … Es kommt zu einem Unfall, den Toussaint (Ästhetik siegt über Moral) allerdings in den Hintergrund rückt, weil ihn viel mehr interessiert, wie Marie reagiert. Marie, die bisher immer auf Perfektion aus war und der sich nun die Macht des Unvorhersehbaren offenbart.

»Dass es im künstlerischen Schaffensprozess einen Platz gibt für das Zufällige, das Ungewollte, das Unbewusste, das Schicksalhafte und das Unerwartete«, das habe sie in diesem Moment erfahren. So meint der Erzähler, der in der Realität ihr gegenüber oft genug zurückstecken muss, wofür er sich geistig revanchiert. Indem er sie durchschaut, ihre Seele »nackt« macht. Aber das weiß er womöglich nicht einmal selbst und sie noch viel weniger. - Geschickt verwebt der Autor Geschehnisse aus früheren Büchern mit der Gegenwartshandlung, Details, die man kennen konnte, aber auch solche, die so noch nicht beschrieben waren.

Es hängt vom Leser ab, ob er den Roman als Solitär oder als Teil eines größeren Ganzen empfindet. Wie im »richtigen Leben« obwaltet der Zufall, die Begebenheiten wirken nicht arrangiert. Des Autors Ehrgeiz liegt im Wie des Erzählens, in diesem immer wieder ausgekosteten geistigen Sieg. So ist dies vielleicht weniger ein Roman über die Liebe als über die Kunst, sich eine imaginäre Welt zu erschaffen, aus der Wirklichkeit Bilder zu formen, die sich überlagern und verbinden können. Die Kunst, bei aller zu erleidenden Ohnmacht doch Meister der Welt zu sein. Wie banal dagegen das Wirkliche: Warten auf einen Anruf, eine kurze Begegnung, eine Reise nach Elba zu einer Beerdigung, der Brand einer Schokoladenfabrik, das Umherirren auf einem nebligen Friedhof und ein unvermutetes Geständnis, das die beiden endlich (endlich?) zusammenführt: Man kann gar nicht glauben, dass dieses vierte Buch den Marie-Zyklus beschließen soll. So einfach ein Happy End? Nur weil die Natur ein Machtwort spricht? Wie sollte auf Dauer die reale Marie der imaginären gewachsen sein?

Jean-Philippe Toussaint: Nackt. Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt. 158 S., geb. 19,90 €.

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