Skanderbeg reitet wieder

Kosovo: Pulverschnee, Heldenmythos und Rock School Projekt

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 7 Min.

Hier in Kosovo, also fast genau in der Mitte von Südosteuropa, scheint Petrus mit der in diesem Winter weithin angesagten Schneesperre etwas verpasst zu haben. Gipfel und Hänge des Sar-Gebirges, ganz im Landessüden, glänzen seit Wochen makellos weiß in der Sonne. Bis auf 2400 Meter hoch erstreckt sich das Skigebiet Brezovica. Ob seiner Schneesicherheit hatte man es 1984 zur Winterolympiade in Sarajevo als Ersatzressort für die Alpinwettbewerbe vorgesehen. Natürlich auch wegen seiner Infrastruktur.

Die indes ist längst nicht mehr olympiatauglich. Nur hier und da schimmert noch Chic und Charme des einst beliebtesten jugoslawischen Wintersportorts durch; wie weithin im zerfallenen und zersprengten Ex-Jugoslawien sieht es auch hier aus. Touristen aus Westeuropa kommen nur spärlich. Dabei ist man vom Flugplatz der kosovarischen Hauptstadt Prishtina in gut zwei Stunden oben.

Zumindest aber ist Brezovica inzwischen ein Geheimtipp für die weltweite Freerider-Gemeinde geworden, also für Leute, die im Pulverschnee abseits von Pisten schussfahren. Tomislav Sapak, ein erfinderischer, flexibler Typ um die 40, hat zwei Pistenwalzen zu Snowcats mit je zehn Sitzen umgebaut. Die Freaks lassen sich damit bis ganz hoch schleppen und rauschen dann mehr als 1000 Höhenmeter runter. »Die haben allen Spaß, und mir geht es ja ganz gut damit«, lacht der gelernte Elektroingenieur, »doch ansonsten läuft wirtschaftlich alles auf kleinster Flamme.« Ein französisches Konsortium wolle in Brezovica 410 Millionen Euro investieren, hieß es unlängst aus dem Wirtschaftsministerium: 20 neue Lifte, 150 Kilometer neue Pisten, Aquapark, 3000 Arbeitsplätze. »Von einem Vertrag war allerdings noch nichts zu hören«, sagt Sapak, tief skeptisch darob, was er in den letzten 25 Jahren in und von seiner Heimat erlebt hat.

Wer seine dunkelglasige Skibrille in Kosovo mal abnimmt, kann das Land ohnehin kaum anders wahrnehmen als durch eben dieses Zeitraster: Ab 1986 Abschaffung der Autonomie innerhalb der jugoslawischen Teilrepublik Serbien; anschwellende Protestbewegung der albanisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit (rund 80 Prozent), die ab 1996 zum blutigen Bürgerkrieg ausartet; NATO-Bombardement auf das serbische Kernland im Frühjahr 1999; Kosovo seither NATO-überwacht; Sezession von Serbien 2008; nur von gut der Hälfte aller UNO-Staaten anerkannt, natürlich von Serbien nicht, aber auch nicht von den NATO-Ländern Spanien, Griechenland, Rumänien, Slowakei; laut einem hochrangigen BND-Mitarbeiter ein »Land, in dem organisierte Kriminalität die Staatsform ist«, Drehscheibe für Drogenschmuggel, Menschenhandel und Geldwäsche; offizielle (»Leih«-)Währung ist der Euro; der Lebensstandard liegt am Ende Europas, die Arbeitslosigkeit bei 40 Prozent.

Als natürlicher Kontrast dazu: Kosovo, von der Fläche her etwa zwei Drittel von Schleswig-Holstein, ist ein faszinierendes Reiseland. Zwischen den schroffen, aber dicht bewaldeten Gebirgen ringsum mit Wasserfällen, tiefen Höhlen, reicher Fauna und Flora liegt ein weites Plateau, das von zahlreichen Flüssen durchzogen ist. Über allem ein Fluidumsmix aus Orient und Okzident. Aber es ist eben auch ein zerrissenes Land: im nördlichen, nach Serbien hineinreichenden Zipfel serbisch bewohnt und orientiert, im großen Rest - schon 100 Jahre lang - albanisch dominiert.

Fährt man aus dem Sar-Gebirge nur etwas weiter nach Norden, stößt man im Zentrum der Stadt Ferizaj (rund 100 000 Einwohner) auf ein architektonisches Symbol dafür, wie Zusammenleben in Kosovo einmal ausgesehen hat. Im Zentrum stehen die Mulla-Veseli-Moschee (gebaut 1891) und die serbisch-orthodoxe Kathedrale des Heiligen Uroc (von 1933) nur 20 Meter voneinander entfernt. »Viele Touristen machen davor ihre Selfies. Verständlich, doch leider vermittelt der Ort nur einen schönen Schein«, sagt Fehmi Mustafa, der nahe der Kreuzung Skenderbeu-Allee/ Madeleine-Albright-Straße einen Buchladen nebst Café betreibt. »Bei uns wohnen nur noch sehr wenige Serben, 1991 waren es fast 10 000.«

Im Umfeld dieser Stadt gab es übrigens die größte Investition in dem jungen Staat überhaupt. Eine Siedlung, etwa halb so groß wie Ferizaj selbst. Mit rund 200 Gebäuden, allen kommunalen Einrichtungen. Aber auch mit Flugplätzen, Bunkern und einer 2,50 Meter hohen Mauer ringsum. Kostenpunkt bislang rund 1,5 Milliarden Dollar, bewohnt von knapp 10 000 GIs - Camp Bondsteel, benannt nach einem US-Veteran-Sergent aus dem Vietnamkrieg. Das ist der mit Abstand größte US-Militärstützpunkt in ganz Südosteuropa, einer der weltweit größten überhaupt. Strategisch gerichtet auf die Region sowie auf den mittleren Osten. Alvaro Gil-Robles, Ex-Menschenrechtskommissar des Europarates, nannte Bondsteel im übrigen eine »kleinere Version von Guantanamo«.

Entlang des Sitnica-Flusses, der bei Ferizaj entspringt, per Bahn oder Straße wieder weiter nordwärts, quert man das riesige Plateau, das fast drei Viertel der Landesfläche einnimmt: Kosovo polje, Amselfeld. Hier ist Serbien in Blut geboren worden, sagt nicht nur die serbische Geschichtsschreibung. Nämlich 1389 in einer Schlacht gegen die Osmanen. Eine zwar für Serbien verlorene, die allerdings den osmanischen Vormarsch nach Westen erheblich verzögerte und Mitteleuropa auf die drohende Gefahr aufmerksam machte. Wie an einer Perlenkette liegen serbisch-orthodoxe Klöster ums Amselfeld. Gracanica (1321) und Decani (1335) sind die bekanntesten und die am stärksten von serbischen Herkunftsmythen umwoben.

Demgegenüber hat das heutige, nationalstaatlich fast durchweg albanisch firmierte Kosovo seinen rund zwei Millionen Staatsbürgern nicht viel Geschichte zu bieten. Aber man arbeitet daran. Der neue nationale Star heißt Skanderbeg. In der Hauptstadt Prishtina hat er sein Denkmal bekommen. Natürlich im besten Historizismusstil, ganz wie sein bronzenes Vorbild, das in Albaniens Hauptstadt Tirana 1968 den bis dahin dort stehenden granitenen J.W. Stalin verdrängt hatte. In Skopje, der Hauptstadt des benachbarten Mazedoniens, gibt es eine solche Reiterstatue übrigens seit 2006 auch.

Dieser Gjergj Kastrioti, genannt Skanderberg (1405-1468), aus einer nordalbanischen Adelsfamilie stammend, hatte sich in einem Kleinkrieg jahrelang den Osmanen widersetzt. Von jenen einst als christlich-orthodoxer Jüngling für das Janitscharen-Elitekorps der Hohen Pforte rekrutiert und zwangsweise zum Islam bekehrt, desertierte er später, nahm den christlich-katholischen Glauben an, wurde im Mittelalter berühmt wie Che Guevara in der Moderne und von Papst Pius II. mit dem Titel Athleta Christi (svw. Christlicher Kriegsheld) bedacht. »Eine mythisch grandiose, aber auch leicht zu vereinnahmende historische Persönlichkeit«, stellt Arbnor Gergjaliu, pensionierter Gymnasiallehrer aus Prishtina und passionierter Hobbyhistoriker, mit leichter Ironie fest. »Erst ein Papst, später die albanische Nationalbewegung, dann die Nazis mit ihrer SS-Division ›Skanderbeg‹, die albanischen Kommunisten unter Enva Hoxha und heute wir - sicher ein toller Kerl, doch leider kann er sich gegen nichts mehr wehren.« Wenn mit ihm als nationales Fanal im heutigen Kosovo (Durchschnittsalter 26 Jahre!) tatsächlich irgend etwas erreicht werden könnte, käme es einem Wunder gleich.

Und noch etwas weiter die Sitnica hinauf, kommt man schließlich nach Kosovska Mitrovica (in Jugoslawien Titova Mitrovica). Hier mündet der Fluss in den Ibri, und der teilt die Stadt in die beiden durch die Konflikte der letzten Jahre erneut unrühmlich bekannten Hälften: der Norden serbisch (13 000 Einwohner), der Süden albanisch (60 000). Die Teilung ist derzeit weit heftiger als etwa in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo (serbischer Ostteil, bosnisch-kroatischer Westteil), aber längst nicht so wie beispielsweise in Nikosia oder gar wie früher in Berlin. Adriana Osmani und Milos Golubovic, die eine aus albanischer, der andere aus serbischer Familie, beide um die 30 und in einer sozialen Hilfsorganisation engagiert, erzählen: »Eigentlich ist unsere Stadt wunderschön. Aber schon die Kinder bekommen von klein auf gesagt: Geh nicht auf die andere Seite!« Und auch von sich selbst meinen die beiden, dass sie »zwar die Probleme teilen, nicht aber die Kultur«.

Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen hier in Mitrovica Jugend-Nord mit Jugend-Süd zusammen kommt, ist übrigens ein Rock School Projekt. Wendy Hassler-Forest leitet es, eine Holländerin. Sie arbeitet für die Organisation Musici Without Borders, die solche Projekte unter anderem auch in Palästina und Ruanda unterhält. Doch in Mitrovica ist selbst die Rock School zweigeteilt - in ein Nord- und ein Süd-Gebäude. Wendy zuckt die Schultern, zeigt mit dem Daumen auf ein Poster mit Jimi Hendrix hinter sich an der Bürowand, und sie zitiert den mit einem Lächeln: »If there is something to be changed in this world, then it can only happen through music.« (Wenn was in der Welt zu ändern ist, dann nur durch Musik.) Irgendwie macht Jimi Hendrix damit ein bisschen mehr Hoffnung für Kosovo als Skanderbek.

Infos

Kosovarisches Ministerium für Handel und Industrie, Abt. Tourismus, www.kryeministri-ks.net
Botschaft der Republik Kosovo in Berlin: www.ambasada-ks.net/de

Literatur

Peter Giefer, Kosovo. Kultur und Natur zwischen Amselfeld und Albanischen Alpen, Trescher-Verlag, Berlin 2010
Malte Olschewski, Der Krieg um den Kosovo, Nidda Verlag, Bad Vilbel, 1999
Peter Schubert, Zündstoff im Konfliktfeld des Balkans, Nomos, Baden Baden, 1997
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