Die Kunst des Seinlassens

Mediziner gründen »Task force« zur Aufspürung unsinniger medizinischer Leistungen

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.
Immer öfter geht es im Gesundheitsbereich darum, überflüssige Medikamentierung und Operationen zu vermeiden. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin hat dazu eine Kommission gegründet.

»Verschreiben Sie keine Antibiotika gegen Atemwegsinfekte. Wiederholen Sie eine Darmspiegelung nur alle zehn Jahre, sofern die Resultate unauffällig sind. Machen Sie kein Osteoporose-Screening bei Frauen unter 65 Jahren, wenn kein erhöhtes Risiko vorliegt.« Dies sind drei Beispiele für medizinische Leistungen, die von einer Initiative von Ärzten infrage gestellt werden. Sie nennt sich Choosing Wisely, was so viel heißt wie »überlegt aussuchen«, wurde 2011 in den USA gestartet und fand bald darauf auch Anhänger in Kanada und der Schweiz. Ihr Grundgedanke ist es, medizinische Eingriffe aufzulisten, deren Nutzen für die Patienten nur unter bestimmten Bedingungen gesichert ist, um ihre inflationäre Anwendung in der Praxis zu vermeiden. Der Fachmann fasst solche zweifelhaften medizinischen Leistungen unter dem Begriff Überversorgung zusammen. Seit 2012 veröffentlichen die US-amerikanischen Kollegen Listen mit ärztlichen Leistungen, die sich als wirkungslos oder sogar schädlich erwiesen haben. Die Schweizer Internisten folgten im Mai 2014 mit eigenen Listen.

Bis zum Jahresende, erklärt Professor Ulrich R. Fölsch von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM), von der die deutsche Choosing-Wisley-Initiative ausging, wolle man aus jeder klinischen Fachdisziplin Top-5-Listen von Maßnahmen erarbeiten, mit denen deutsche Patienten überversorgt seien. Dazu werde man mit Fachgesellschaften, Ärzteverbänden und Krankenkassen zusammenarbeiten. Auch Fölsch nennt als Beispiel für überflüssige Versorgung die Darmspiegelung (Koloskopie), die bei Menschen im Alter von über 55 Jahren nur im Abstand von zehn Jahren wiederholt werden sollte. Es gebe schließlich auch Nebenwirkungen, sagt Fölsch. So könne es beispielsweise zu Darmperforationen kommen. Der Mediziner führt Studien an, die eindeutig zu der Erkenntnis gelangten, häufigere Darmspiegelungen seien sinnlos. Auch Rückenbeschwerden würden Mediziner allzu schnell mit einer Computertomografie auf die Spur kommen wollen. Doch alle Erfahrungen zeigen, dass bildgebende Verfahren keinen Sinn ergeben, wenn die Beschwerden weniger als sechs Wochen andauerten. Unnötige Strahlenbelastung könnte auch Nebenwirkungen hervorrufen. »Viele medizinische Eingriffe bedeuten auch eine Belastung für den Patienten«, meint auch der DGIM-Vorsitzende, Professor Dr. med. Michael Hallek aus Köln. »Als Ärzte ist es nicht nur unsere Pflicht zu behandeln, sondern auch Behandlungen zu unterlassen, wenn sie dem Patienten nichts nützen oder ihm sogar schaden könnten.« Bei vielen Leistungen auf diesen Listen handelt es sich nach Angaben der deutschen Internisten um lang etablierte Methoden, die nicht mehr dem heutigen Kenntnisstand entsprechen. Ärzte handelten nicht immer nach dem neuesten Stand der Erkenntnis, sondern nutzen Methoden, die sie aus eigener Erfahrung kennen, so Hallek: »Erfahrung ist zwar extrem wichtig, doch wenn nicht regelmäßig ein Abgleich mit der medizinischen Entwicklung stattfindet, hängt veraltetes Wissen als Ballast an uns und den Patienten und bindet auch Mittel, die an anderer Stelle fehlen«. Problematisch sei zudem, dass das Gesundheitssystem zuweilen falsche ökonomische Anreize setze. Für das Gespräch mit dem Patienten etwa oder das bewusste Unterlassen von Behandlungen bekommt ein Arzt wenig erstattet, so der Direktor der Klinik für Innere Medizin der Universität zu Köln: »Das Gespräch mit dem Patienten ist eine wichtige ärztliche Tätigkeit, die künftig besser honoriert werden muss, auch wenn der Arzt anschließend keine weitere Untersuchung anordnet oder kein Medikament verschreibt.«

Die Fachgesellschaft der Internisten hat eine Kommission ins Leben gerufen. Sie nennt sie Task Force (Einsatzgruppe) »Unnötige Leistungen«. Man müsse ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ein Zuviel an medizinischer Fürsorge ähnlichen Schaden anrichten kann, wie das Unterlassen einer nötigen Leistung, sagt Task-Force-Leiter Professor Dr. med. Gerd Hasenfuß aus Göttingen. Die amerikanischen Empfehlungen seien dafür eine sehr gute Hilfe, aber nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Deswegen arbeitet die DGIM an eigenen Empfehlungen. »Ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit medizinischer Maßnahmen kann nicht nur eine Qualitätssteigerung, sondern auch eine sinnvolle Kosteneinsparung für das Gesundheitswesen bedeuten«, betont Hallek.

Auf dem 121. Internistenkongresses im April in Mannheim wollen Experten die Initiative »Choosing wisely« aus der Perspektive verschiedener internistischer Fachbereiche diskutieren.

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