Backstage-Bekentnisse

Mann oder Frau? - In »Gritty Glamour« im Ballhaus Naunynstraße ist das unerheblich

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

Spätestens nach dem Siegeszug, den die in diesem Hause entstandene Inszenierung »Verrücktes Blut« auf deutschen Theaterbühnen angetreten hat, ist das Ballhaus Naunynstraße zu einem Geheimtipp geworden. Viele Stadt- und Staatstheater haben das Stück nachgespielt, womit sich die Absichten der Gründer dieser ungewöhnlichen Spielstätte, »ästhetische und inhaltliche Impulse« geben zu wollen, zu verwirklichen begann. Darüber hinaus brachte die Inszenierung »Süpermänner« einen neuen Blickwinkel in den gesellschaftlichen Verständigungsprozess, weil dort die vielfach verunglimpften und belächelten türkischen Männer - vom 36-jährigen Filmemacher bis zum 72-jährigen Rentner - selbst zu Wort kamen und erkennen ließen, welche Bereicherung durch sie dem deutschen Alltagsleben zuwachsen kann.

Mit der Inszenierung »Gritty Glamour« (Text: Daniel Martins, Regie: Simon Jaikiriuma Paetau) sind andere Künstler hinzugekommen, die programmgemäß »neue Perspektiven« aufzeigen können. Diese Künstler sind der in New York aufgewachsene Rapper und Tänzer Black Cracker, der in Kolumbien geborene Tänzer und Poet Jair Luna, der schon in der Compagnie von Anna Teresa de Keersmaker gearbeitet hat, die aus dem portugiesischen Porto stammende Stimmkünstlerin Aerea Nerot und der in androgynen Rollen in Film und Fernsehen aufgefallene Dieter Rita Scholl.

Im Backstage-Room eines Kreuzberger Nachtclubs bereiten sie sich auf ihren Auftritt vor. Auf der Bühne werden sie später als die von ihnen kreierten Kunstfiguren, die zur Marke geworden sind, agieren. Black Cracker wird »Blue Callas«, Aerea Negrot die »Elektro-Goldstimme« Maria Sumak sein, Jair Luna wird als er selbst agierend und Dieter Rita Scholl als die Drag Queen Greta. Eine Stimme hinter dem Vorhang kündigt die bevorstehende Show als Solidaritätsbekundung für ein von Rechtsextremisten brutal niedergeschlagenes Mädchen an.

Im folgenden erzählen die Protagonisten - im Einzelmonolog oder in der Zweier- bzw. Dreierszene - von ihren Hoffnungen und Ernüchterungen als Künstler, von ihren Erfolgen und ihrer Sehnsucht nach Nähe zum Publikum. Sie reden von ihren zum Teil ungewöhnlichen sexuellen Ausrichtungen und den Herausforderungen des von ihnen favorisierten »queeren Lebens«. Am Ende befragen sie Menschen aus dem Zuschauerraum Auge in Auge: »Mann oder Frau?« und lassen dabei erkennen, dass diese Unterscheidung für sie unerheblich ist.

Geschichten voller Lebensschmerz und ungebrochener Lebensfreude sind zu hören. Von Anfeindungen militanter »Grüner« ob ihres auffälligen Pelzmantels erzählt Aerea Negrot. Dieter Rita Scholl rekapituliert die Geschichte der von ihm gegründeten transsexuellen Künstlergruppe »Greta und Hans«, erinnert sich an heftige Konflikte mit den Feministinnen und an die Angewohnheit schwuler Künstler, ihrem Künstlernamen einen weiblichen Vornamen voranzusetzen. Jair Luna denkt laut über den Jugendfreund Reinaldo nach, der ihn als Einziger verteidigt hat und den zärtlich zu berühren er sich nie getraut hat. Als Emotionsbündel erweist sich Black Cracker, wenn er sich die Brust aufreißt aus Verzweiflung darüber, dass er all die Konflikte, die er in seinem Inneren trägt, nicht auszudrücken vermag. Immer wieder der wehmütige Gesang von Operetten- und Schlagermelodien und die Liebeserklärung an ideologiefreie schwebend poetische Texte.

Schauspielerische Mittel werden erkennbar, wenn sich Aero Negrot und die Drag Queen körperlich näherkommen und dabei belanglose Texte über die Qualität des Döners im Munde führen. Dazwischen auch Momente von Zukunftsangst - so wenn der Blick von Aerea Negrot ganz unerwartet auf den Friedhof von gegenüber fällt oder wenn sich Dieter Rita Scholl ebenso traurig wie verständnislos an den geliebten Vater erinnert, der sich jeder zärtlichen Berührung verweigerte. Immer wieder wird ein Spannungsverhältnis zwischen der Alltagsexistenz der Künstler und der Scheinwelt der von ihnen verkörperten Kunstfiguren deutlich und immer wieder springen sie auf der Bühne in neue Rollen - so wie Jair Luna, der verdeckt unter einer aufwendigen Frauenperücke die Mutter der Stimmkünstlerin Aerea Negrot gibt, die ihre Tochter beim Liebesspiel mit einer Frau ertappt und überraschender Weise solche sexuelle Aktivität begrüßt.

Sicherlich ist das kein Abend, der den Bedürfnissen des Stadttheaterpublikums entgegenkäme, aber eine Begegnung mit ungewöhnlichen Lebenswelten erzählt mit ungewöhnlichen Mitteln.

Nächste Vorstellungen: 11., 13., 14.3.

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