Einfalt statt Vielfalt

Schulbuchstudie »Migration und Integration« weist auf Defizite in Lehrmaterialien hin. Von Celestine Hassenfratz

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Henkel des Jutebeutels sind schon angerissen an der linken Seite. Zu schwer, die Bücher, Hardcover. Yasemin und Mäxchen schleppen sich ab. Jan hat Glück, sein Ranzen hat ein ergonomisches Rückenpolster, frei von Azofarbstoffen, Cadmium und PCP, 16,5 Liter. Mindestens fünf Bücher gleichzeitig kann der Junge darin tragen, darauf haben seine Eltern geachtet. Bei Yasemin und Max ist das Rückenpolster gut belüftet. 13 Liter. Zu wenig Platz, um alle Schulbücher jeden Tag vom Kinderzimmer in die Schule zu tragen. Deshalb die Jutebeutel, zusätzliche Stütze.

So sehr die Eltern der Sprösslinge bei der Auswahl der Schulranzen ihrer Kinder auch mit offenen Augen alle Testberichte studierten, vor dem Inhalt der Tornister können sie die Kleinen nicht bewahren. Schulbücher. Instrumente nationaler Erziehung. Überall wandern sie routiniert deutschlandweit morgens in den Ranzen. Intensiv werden sie studiert, von Stunde eins bis sechs. Auch am Mittag, manch eines der Bücher verirrt sich sogar nachts unter das Kopfkissen.

Das Vertrauen in die Bücher ist allgemein groß, aber ist es auch angebracht? Wo denn, wenn nicht in der Schule, soll der Nachwuchs all das Wichtige über die Welt und ihre Menschen lernen? Vertrau’ den Schulbüchern nicht, zumindest misstraue ihnen, soll Erich Kästner einst gesagt haben. »Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind«, so der Schriftsteller. Die von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz (SPD), in Auftrag gegebene »Schulbuchstudie Migration und Integration« zeigt, dass dieses von Kästner vor mehr als 60 Jahren angeratene Misstrauen auch heute begründet ist.

Wie können Migration und Integration angemessen in Schulbüchern vermittelt werden? Spiegeln Schulbücher Integration, Migration und gesellschaftliche Vielfalt überhaupt wider? Sich an diesen zentralen Fragen abarbeitend, haben Wissenschaftler des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung 65 Schulbücher aus den Fächern Sozialkunde, Geschichte und Geografie in den Jahrgangsstufen sieben bis zehn untersucht.

Viola Georgi lehrt an der Universität Hildesheim im Bereich »Diversity Education« und war an der Studie beteiligt. »Die Schulbücher spiegeln größtenteils dominante gesellschaftliche Diskurse wider, wie zum Beispiel die sich hartnäckig behauptende Position, dass Migranten in erster Linie Probleme verursachen und Migration konfliktbeladen seien«, resümiert Georgi die Ergebnisse. »Viele Schulbuchdarstellungen verfallen immer wieder in das Muster ›Wir‹ und ›Sie‹, ›eigen‹ und ›fremd‹.« So fordert eines der untersuchten Schulbücher etwa die Lehrer auf, ihre Klasse in deutsche und ausländische Schüler zu teilen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. In einem anderen Buch sollen mögliche Zukunftswege für »ausländische Kinder« formuliert werden.

Insgesamt werden Migranten häufig als Ausländer, (Armuts-)Flüchtlinge, Illegale und Notleidende bezeichnet und beschrieben. Teilweise werden sie auch wegen ihrer Herkunft oder aufgrund kultureller oder religiöser Traditionen in Gruppen zusammengefasst. Dann sind es »die Türken« oder »die Muslime«. Die gesellschaftliche Diversität, die in der Realität existiert, spiegelt sich in den Schulbüchern nicht wider. In Deutschland hat mittlerweile ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren einen Migrationshintergrund, in Großstädten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt sind es oftmals weitaus mehr. Über 80 Prozent von ihnen sind deutsche Staatsangehörige.

»Schulbücher müssen diese gesellschaftliche Entwicklung im Blick haben«, betonte Ministerin Özoğuz, als sie die Studie Anfang dieser Woche in Berlin vorstellte. Doch gerade diese Entwicklung haben die meisten Schulbücher nicht im Fokus. Klischeebeladene Abbildungen und Aufgabenstellungen, die Stereotype zementieren, tragen nicht dazu bei, den Kindern Toleranz und die Bedeutung, Ursachen und Wichtigkeit von Migration und Integration zu vermitteln. Lediglich in Nordrhein-Westfalen ist das Thema Migration überhaupt ein verpflichtender Lehrinhalt. In Klasse neun sollen sich Schüler im Rahmen eines Inhaltsfeldes »Identität und Lebensgestaltung im Wandel der modernen Gesellschaft« mit »Ursachen und Folgen von Migration sowie Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Zusammenlebens von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen« auseinandersetzen. »Das Thema wird etwa einmal im Jahr behandelt«, erzählt Martina, die als Lehrerin an einer Gesamtschule in NRW tätig ist. »Auseinandersetzung und Reflexion über die Lehrinhalte Migration und Integration, etwa im Kollegium, finden aber nicht statt.«

In den anderen Bundesländern ist die explizite Auseinandersetzung mit Migration und Integration Wahlthema. Im Unterricht in NRW werden Schüler in diesem Fall gefragt, wann eine Person als gut integriert gilt. Die Antwortmöglichkeiten erstrecken sich von, »wenn sie so lebt wie die Deutschen«, »wenn sie von Deutschen anerkannt wird« bis hin zu »wenn sie von den deutschen Nachbarn zum Kaffee eingeladen wird«. Die Schüler können in der Aufgabe zwar auswählen, sich unterschiedlich positionieren; die Auswahlmöglichkeiten selbst, die Vielfalt der Darstellung von Integration, jedoch ist sehr undifferenziert und ungenau. Wörter wie »Schwemme«, »Flut« oder »Strom« werden im Zusammenhang mit Flüchtlingen benutzt, in einer Karikatur in einem Schulbuch aus NRW wurde sogar das »N-Wort« für farbige Menschen gefunden.

Tahir Della ist Vorsitzender der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und kritisiert die erheblichen Defizite in der Bildungspolitik. »Die Schulbücher sind in den 70ern stehen geblieben. Das aktuelle Gesellschaftsbild hat in den Büchern noch keinen Einzug gehalten«, so Della. Er kritisiert weiter die fehlende Beteiligung von Migranten und farbigen Menschen bei der Entwicklung der Bücher.

Der Schulbuchmarkt ist aufgeteilt unter drei großen Marktführern: Cornelsen, Ernst Klett und Georg Westermann. Sie machen 90 Prozent des Umsatzes unter sich aus. Zwar können in einigen Bundesländern die Lehrer frei entscheiden, welche Lehrmittel sie einsetzen, in der Regel wird diese Möglichkeit aber nicht ausgenutzt. Alle drei Schulbuchverlage antworten prompt auf die Presseanfrage: »Die Studie trägt zur Qualitätssicherung bei«, erklärt die Sprecherin des Georg Westermann Verlags. Die Autoren der Schulbücher würden von erfahrenen Redakteuren in die sensible Thematik eingearbeitet. Bei Cornelsen gibt man sich etwas differenzierter und erklärt, dass Lehrkräfte mit Migrationshintergrund an den Lehrwerken maßgeblich mitarbeiteten und man darum bemüht sei, Respekt und Toleranz in den Schulbüchern zu vermitteln, und weist auf die bereits vorhandenen Schulbücher aus dem Bereich interkultureller Bildung hin. Auch beim Ernst Klett Verlag verweist man auf bereits existierende, meist neuere Schulbücher, in denen das Thema »Vorurteile im Kontext der Migrationsgesellschaft« als Aufgabe behandelt werden kann, um damit Diskriminierungssituationen im Klassenraum entgegenzuwirken. Bei Ernst Klett will man die Studie als Anlass nehmen, Gespräche zu führen. Die Anregungen will man aufgreifen, versprechen alle drei.

Auch Staatsministerin Özoğuz hofft, dass die Ergebnisse der Studie in der Praxis aufgegriffen werden. Doch in der Verantwortung, so sehen es auch die Verfasser der Studie selbst, sind nicht nur die Schulbuchverlage, sondern die Lehrer und die Bildungsministerien, auch Ministerin Özoğuz trägt hierfür eine Mitverantwortung. Sollte ein Umdenken stattfinden, und sich gesellschaftliche Vielfalt, ohne Vorurteile, doch irgendwann in den Schulbüchern wiederfinden, wird es für Jan, Yasemin und Max in zweierlei Hinsicht zu spät sein. Die Inhalte aus den Büchern werden sie längst verinnerlicht und die Schule bereits verlassen haben.

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