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Verhungern bei vollem Magen
Mehr Kohlendioxid in der Luft verändert die Nährstoffzusammensetzung der Pflanzen und führt so zu Mangelernährung bei Insekten
Als 2017 die sogenannte Krefelder Studie veröffentlicht wurde, rüttelten deren Ergebnisse Öffentlichkeit, Politik und selbst Fachwissenschaftler auf. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz waren über fast 30 Jahre Insekten gefangen und dabei ein Schwund um mehr als ein Dreiviertel festgestellt worden. Einen so empfindlichen Verlust hatte kaum jemand erwartet.
Als Hauptschuldige für das Insektensterben wurden ausgemacht: die Pestizide der Landwirtschaft, die Flächenversiegelung durch Straßen und Siedlungen, die Temperaturveränderung durch den Klimawandel und die zunehmende Lichtverschmutzung, die den Insekten die räumliche Orientierung verunmöglichen. Je nach betroffener Interessengruppe wird dabei der eine Grund erhöht und der andere verharmlost. Die oft als Hauptverursacher bezeichnete konventionelle Landwirtschaft – eine weltweite Erhebung von vor drei Jahren bezifferte ihren Anteil zum Insektentod auf 46 Prozent – freute sich nur ein Jahr später über eine im Fachmagazin »Nature« veröffentlichte Studie der Universität Würzburg, die stattdessen die Hauptschuld den Wetterschwankungen gab. Der Bayerische Bauernverband titelte umgehend euphemistisch wie unrichtig: Krefelder Studie fast vollständig widerlegt.
Bauernverband wie chemische Industrie spielt gleichermaßen gut in die Karten, dass die genannten Ursachen, die vermutlich für das massenhafte Sterben verantwortlich sind, sich nur schlecht voneinander abgrenzen lassen. Dass die Flächenversiegelung einen Einfluss auf den Insektenrückgang hat, klingt logisch, nur wie ist dafür ein wissenschaftlicher Nachweis zu erbringen? Und ab welcher Menge Pestizide wird es so schädlich, dass ganze Insektengruppen sich nicht mehr erholen können? Es wirken zu viele Einflüsse auf das Versuchsfeld ein, wie beispielsweise bei einer Ackerfläche, als dass eine eindeutige, wissenschaftlich saubere Aussage darüber getroffen werden kann, was die Veränderung der Insektenpopulation verursacht hat.
Ganz anders war die Situation in der Konza Prärie. Das fast 5000 Fußballfelder große Gebiet im US-Bundesstaat Kansas genießt den Status eines Biosphärenreservats und befindet sich im Besitz der Kansas State University. Siedlungen oder auch nur ein Bauernhaus, Fehlanzeige, selbst Straßen gibt es dort keine. Was aber reichlich vorhanden ist, ist der Rest der ursprünglichen Hochgrasprärien, die einst großflächig den nordamerikanischen Kontinent bedeckten, bevor die europäischen Siedler die Landschaft zivilisierten. Und genau hier starteten 1996 Forschungsökologen ein einzigartiges Projekt. Sie untersuchten über 22 Jahre die Veränderung des Nährstoffgehalts der Graspflanzen, die unbeeinflusst von Menschen und Nutztieren wuchsen. Sechs Jahre später entschieden sich die Wissenschaftler, noch zusätzlich die Teile der Prärie mitzuberücksichtigen, die von freien Bisonherden abgegrast werden. Schließlich übernahmen die Wissenschaftler Ellen Welti und Michael Kaspari das Projekt und werteten die umfangreichen Datensätze aus. Das Ergebnis war beeindruckend.
Mehr Masse, weniger Nährstoffe
In den drei Jahrzehnten hatte die gesamte Pflanzenbiomasse um 60 Prozent zugenommen. Das Präriegras schien offensichtlich zu gedeihen. Als Welti und Kaspari jedoch die Pflanzen untersuchten, offenbarte sich ein Paradoxon. Der Nährstoffgehalt der Pflanzen blieb nicht prozentual gleich oder nahm sogar zu, zum Erstaunen der beiden Wissenschaftler hatte er rapide abgenommen. Bei Stickstoff war der Schwund mit 42 Prozent noch am geringsten, Kalium und Phosphor reduzierten sich um mehr als die Hälfte und Natrium konnte nur noch zu zehn Prozent in den Pflanzen nachgewiesen werden. Nur der Gehalt von Magnesium war prozentual unverändert geblieben. Stattdessen hatte etwas anderes stark zugenommen: der Kohlenstoffgehalt. Kohlenstoff (C) ist, wie der Name vermuten lässt, in Kohlendioxid (CO2) enthalten, das die Pflanzen aus der Atmosphäre aufnehmen, um wachsen zu können. Im beobachteten Zeitraum von 1996 bis 2017 nahm der CO2-Gehalt in der Atmosphäre stark zu – von rund 360 zu 406 parts per million (ppm).
Zum Vergleich: 1955 waren es noch 314 ppm. Die gleiche CO2-Zunahme dauerte in den Jahren zuvor also noch rund doppelt so lange. Für das Pflanzenwachstum wurde die atmosphärische Kohlendioxidzunahme immer als positiver Effekt eingestuft: der Klimawandel als natürlicher Dünger, so die hoffnungsvoll angenommene Kehrseite einer düsteren Medaille. Entsprechend erfolgreiche Versuche zu dieser Vermutung unternahm Melissa Pastore, Ökologin an der Universität von Minnesota und veröffentlichte ihre Ergebnisse 2018 in einer weltweit beachteten Studie.
Abnahme der Heuschreckenpopulation
Aber neben der Pflanzenbiomasse untersuchten Welti und Kaspari in der Hochgrasprärie im Mittleren Westen auch noch etwas anderes: die Orthopteras, die in diesem Gebiet lebenden Heuschrecken. Erstaunliche 44 verschiedene Arten sind es in der Konza Prairie an den Flint Hills. Unbeeinflusst von Pestiziden und intensiver Landwirtschaft, Flächenversiegelung und -nutzung durch den Menschen sowie bei einem über die letzten Jahrzehnte immens gestiegenem Nahrungsangebot müssten die springenden Pflanzenfresser hier die glückliche Ausnahme des sonst so gravierend fortschreitenden Insektensterbens sein?
Die Messungen zeigten jedoch das genaue Gegenteil. In den beobachteten 22 Jahren nahm die Population der Heuschrecken um 36 Prozent ab, wobei die Werte zwischen dem von Bisons beweideten und dem unbeweideten Gebiet sich kaum unterschieden. Obwohl also das Nahrungsangebot für die Heuschrecken um 60 Prozent anstieg, reduzierte sich ihre Anzahl um mehr als ein Drittel. Wie war das möglich? Der Grund klingt grausam: Die Heuschrecken verhungerten mit vollem Magen. Sie wurden zwar durch die Pflanzen satt, ihnen fehlte aber die notwendige Menge an überlebenswichtigen Nährstoffen. Die Heuschrecken ernährten sich gewissermaßen so, wie wenn Menschen ausschließlich Fast Food essen würden – durch Nahrung mit vielen leeren Energien.
Weitere Ursache des Insektensterbens
Sollte die neue Studie von Welti und Kaspari sich auch in anderen Regionen der Erde bestätigen, fügt sie den bisherigen Gründen für das Insektensterben einen empfindlichen hinzu. »Obwohl die Studie robust ist, auch Wetterschwankungen wurden berücksichtigt, könnte es sein, dass manche Arten sich besser anpassen können als andere«, vermutet Roel van Klink vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig. »Welche das allerdings sein könnten und ob eine Anpassung oder ein Evolvieren in der notwendigen kurzen Zeit überhaupt möglich ist, das kann noch nicht gesagt werden.«
Sollte sich allerdings der Effekt der vermehrten Kohlenstoffanreicherung in den Pflanzen bei gleichzeitiger Abnahme der Mineralien bestätigen, käme es für die Insekten einer Katastrophe gleich. Denn wenn bei den vergangenen, noch verhältnismäßig geringfügig erhöhten CO2-Werten in der Atmosphäre die Insekten schon zu wenige Nährstoffe erhalten und das ihre Populationen drastisch einbrechen lässt, wie wird es erst in den nächsten 20 bis 30 Jahren sein? Denn nach aller Voraussicht wird die Kohlendioxid-Konzentration weiter stark ansteigen. Van Klink zeichnet ein düsteres Bild. »Der Klimawandel wird in absehbarer Zeit nicht wieder verschwinden. Es wird technisch unmöglich sein, die notwendigen Mengen an CO2 aus der Atmosphäre zu filtern, um den Effekt der verstärkten Kohlenstoffanreicherung in den Pflanzen rückgängig zu machen.«
Studien in anderen Regionen nötig
Derzeit können weitere Freiflächenexperimente, um die Ergebnisse der Studie von Welti und Kaspari zu vertiefen, zu bestätigen oder zu korrigieren, an einer Hand abgezählt werden. Van Klink plant das erste deutsche Experiment dieser Art, welches bisher einmalig einen besonderen Fokus auf Insekten legen soll. Und die Zeit drängt. Insekten sind die Grundlage für das Funktionieren unserer Ökosysteme. Früchte, Gemüse, Nüsse sind auf ihre Bestäubung angewiesen. Insekten sind aber auch Nahrung für andere Lebewesen. Auch wenn die meisten von uns Insekten nicht als niedlich empfinden können, so sollten wir dringend anfangen, für sie zu lobbyieren. Denn Welti und Kaspari machten noch einen anderen starken Populationsschwund aus, der uns womöglich emotional mehr berührt als der Rückgang von Insekten. Noch stärker als die Heuschrecken gingen die Grasland-Singvögel zurück. Ihre Population brach um mehr als die Hälfte ein, um 53 Prozent.
Der Artikel ist vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung gegengelesen und alle gemachten Aussagen sind bestätigt worden.
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