Die Alternativlosigkeit und die Wahlbeteiligung
Ich erinnere mich an heiße Debatten mit einigen aufrechten Demokraten. Sie waren der Ansicht, dass das Liegenlassen des Wahlrechts ein grober Verstoß gegen die Demokratie sei. Wer nicht wählt, so der abgedroschene Satz, den man nicht nur aus deren besorgten Mündern hört, der dürfe sich hernach nicht beschweren. Ich habe diesen Satz nie gelten lassen. Denn wenn diese Demokratie überhaupt etwas bedeutet, dann den Umstand, dass man eben wählen kann oder nicht, dass man sich beschweren kann oder eben nicht. Kurzum: Politisch zu sein steht einem frei. Und nicht zur Wahl gehen zu wollen, ist zwar keine Lösung, aber ein persönliches Recht, das man sich nehmen können sollte. Mit einem etwaigen Wahlzwang, mit dem einige Demokraten hausieren gehen, formt man dann keine Republik voller bewusster Demokraten, sondern eher ein Wahlvolk, das politische Grundsatzentscheidungen als aufoktroyierte Belästigung wahrnimmt. Damit wäre niemanden geholfen.
Trotz allem ist natürlich nicht alles in Ordnung mit einer Demokratie, in der die sinkende Wahlbeteiligung zum Standard und die Nichtwahl zur letzten Option wird. Der Haus- und Hof-Politikwissenschaftlicher des ZDF hat da weitaus weniger Probleme. Er glaubt, dass die »niedrige Wahlbeteiligung [die] Demokratie nicht [verzerrt]«. Rein »staatssystematisch« betrachtet hat er natürlich recht. Ein Mindestsatz an Wählern ist nirgends vorgeschrieben. Aber so zu tun, als sei quasi alles in blendender Ordnung, zeigt doch nur mal wieder, wie gleichgültig Politik, Fachleuten und gewissen Medienanstalten die Ernüchterung an den Urnen mittlerweile ist. Sie nehmen die Wahlbeteiligung zur Kenntnis und haken sie als demokratische Normalität ab.
Oder sie machen es wie jener Experte, der ganz offen zugibt, dass in armen Gebieten zwar weniger gewählt würde (was Statistiken ja durchaus stützen), aber dennoch alles demokratisch einwandfrei laufe. Nur weil die Habenichtse also keine Alternative mehr für sich sehen und weil in sozialen Brennpunkten die Wahlbeteiligung viel niedriger liege als anderswo, so könnte man schlussfolgern, liege noch lange nicht irgendetwas demokratisch im Argen. Die Leute sollen sich nur keine Sorgen machen. Auch wenn bald schon nur noch 40 Prozent zur Landtagswahl gehen: Alles ist im Butter, denn es wählt der Teil der Wahlberechtigten, den man lieber an den Urnen hat. Die Zufriedenen, die ein gewisses Maß an »Weiter so!«-Politik beibehalten wollen. Und nicht die ganzen Leute, die etwas verändert haben wollen. Irgendein Fachmann für Politikwissenschaft wird auch dann noch lamentieren, wenn nur noch 40 oder weniger Prozent von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Auch dann wird er erläutern, dass alles im grünen Bereich liege und demokratisch völlig unbedenklich sei.
Mit Nichtwählern kann man nicht hadern. Dass dieses System aber als Staatsbürger einen Typus züchtet, der sich mehr und mehr als Nichtwähler begreift, darüber sollte man streiten. Auch der ZDF-Experte sagte was dazu. Er meinte, Politik müsste wieder »lebensnäher werden« und dürfe »nicht abgehoben sein«. Für die »elementaren Alltagsprobleme der Menschen« müsse sie als »Ansprechpartner, Kümmerer, Auswegsucher« fungieren. Das klingt alles wie immer, wenn man nach Ursachen forscht. So nichtssagend und glatt. Die allgemeine Alternativlosigkeit aber, die bei diversen Wahlen ein trauriges Bild abgibt, nennt man so gut wie nie. Dass es leere Haushaltskassen und knappe Mittel für Soziales, Senkungen im Bildungssektor und Einsparprogramme, schlechtere Gesundheitspolitik, unzureichende Arbeitsmarktgesetze und so weiter und so fort sind, die Menschen resignativ an Wahltagen an der Urne vorbeimarschieren lassen, weiß man zwar. Aber man formuliert es dann mit Worthülsen aus, wie jene des Experten vier Sätze vorher.
Und letztlich tritt dann wieder ein standhafter Demokrat auf und erklärt den Verlierern der Politik der letzten Jahre, dass sie verdammt nochmal von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen sollten. Und wer nicht will, soll zur Wahl geschleppt werden. Dann ist wieder alles in Ordnung.
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