»Für uns hat ein zweites Leben begonnen«

Giuliano Giuliani über den Kampf um die Rehabilitierung seines Sohnes Carlo, der am 20. Juli 2001 bei den Protesten gegen den G 8-Gipfel in Genua von einem Carabiniere erschossen wurde

  • Lesedauer: 7 Min.
Nach Ansicht von amnesty international kam es 2001 während des G 8-Gipfels in Italien »zur größten Außerkraftsetzung demokratischer Rechte in einem westlichen Land seit Ende des Zweiten Weltkrieges«. Bei einem brutalen Polizeieinsatz wurde der junge Demonstrant Carlo Giuliani getötet. Dessen VaterGiuliano Giuliani setzt sich dafür ein, dass die 2003 eingestellten Ermittlungen gegen den Todesschützen wieder aufgenommen werden. Ines Wallrodt sprach mit dem 68-jährigen ehemaligen Gewerkschafter, Stefanie Graf übersetzte das Interview.
ND: Herr Giuliani, was war Ihr Sohn für ein Mensch?
Giuliani: Eigentlich müsste ja Carlo selbst über sich reden ... - In erster Linie war er ein junger Mann - weder ein Held noch ein Märtyrer -, der die Ungerechtigkeiten in der Welt wahrgenommen und sich dagegen gewehrt hat.

Haben Sie seine politischen Positionen geteilt?
Es ist unmöglich, dass Vater und Sohn immer gleicher Meinung sind. Man weiß ja: Söhne haben immer Recht und die Väter müssen sich anpassen. An eines erinnere ich mich sehr genau: Mögen die Diskussionen noch so heftig gewesen sein, Carlo hat dem Gegenüber immer direkt in die Augen geschaut. Das war Ausdruck seiner Ehrlichkeit. Selbst wenn wir uns nicht einigen konnten, haben wir uns am Ende umarmt und das ging von Carlo aus. Er hat dann immer gesagt, das ist normal, aber wir haben uns trotzdem sehr gern.

Fanden Sie richtig, dass Ihr Sohn an den Protesten gegen den G 8-Gipfel teilnehmen wollte?
In der Öffentlichkeit wurde viel darüber diskutiert, was alles passieren könnte. In der Presse hieß es stets, es werde sehr gewaltsam. Natürlich war das auch ein Thema in unserer Familie. Als wir darüber geredet haben, stand für Carlo noch gar nicht fest, ob er am Freitag oder Samstag zu den Demonstrationen geht. Ich habe ihm nur den Rat gegeben: Pass auf dich auf.

Hätten Sie diese Eskalation vorher für möglich gehalten?
Die Rechten hatten gerade die Regierung übernommen. In Genua wollten sie ihre Visitenkarte für Italien und die Welt hinterlassen, ein Exempel statuieren. 18 000 Sicherheitskräfte und sogar Marine waren im Einsatz, 250 Plastiksärge schon bereitgestellt, das größte Krankenhaus Europas zur Hälfte leer geräumt. Es wurde sogar behauptet, dass Demonstranten HIV-verseuchtes Blut über die Polizisten ausschütten wollen. Am Samstag, einen Tag nach dem Mord, wurde auch auf die Schwestern von Pax Christi eingeschlagen, weil hinter allen, die an den Protesten teilnahmen, anarchistische Gewalttäter vermutet wurden. Das zeigt die Idiotie der italienischen Rechten, »der Berlusconis«.

Die Aufklärung der Ereignisse läuft äußerst schleppend, der Fall Carlo Giuliani ist in Italien schon zu den Akten gelegt. Gibt es denn gar keinen öffentlichen Druck?
In Deutschland versucht die Presse, ihrer Aufgabe nachzugehen, Informationen aufzudecken und zu veröffentlichen. In Italien funktioniert die Presse nicht so. Meine Dokumentation »Was geschah auf der Piazza Alimonda« wurde bei uns nur über die »Liberazione«, die Zeitung der Rifondazione Comunista, verbreitet. Die DVD, für die Filmaufnahmen und Fotografien von den Ereignissen am 20. Juli zusammengeschnitten wurden, entstand in Zusammenarbeit mit ARCI (gewerkschaftsnaher Freizeit- und Kulturverband, Anm. d. R.) und wurde von der Europäischen Linkspartei unterstützt. Ein Teil der italienischen Bevölkerung ist interessiert an der Aufarbeitung: Linke, Jugendliche, Pazifisten, Gewerkschafter. Diese werden auch den Film sehen.

Und der große Rest gibt sich mit der offiziellen Darstellung zufrieden?
Die einseitigen Darstellungen in der Presse haben durchaus gewirkt. Und dann wollen viele Menschen einfach vergessen, weil sie sich schuldig und verantwortlich fühlen.
Eine entscheidende Rolle für den bisherigen Verlauf spielt der ehemalige Vizepräsident Gianfranco Fini. Er war politisch verantwortlich für den Einsatz. Er war auch in den Strategiezentren der Sicherheitskräfte präsent, hat dort mitbestimmt und Befehle erteilt. Fini hat dort den Schießbefehl an die Carabinieri noch einmal ausdrücklich bekräftigt.

Was ist der entscheidende Punkt, dem Sie widersprechen?
Wir wollen nachweisen, dass die offizielle Behauptung, Carlo habe den Feuerlöscher auf den Carabiniere geworfen und dieser habe dann in Notwehr geschossen, nicht der Wahrheit entspricht. An dieser Aussage sind nicht einmal die Kommata richtig! Mit dieser Begründung wurde das Verfahren gegen den Carabiniere eingestellt. Dabei hat das ganze Material, auf dem die DVD beruht, dem Gericht vorgelegen. Es zeigt beispielsweise auch, dass sie Carlo nachträglich noch misshandelt haben. Sie haben seinen Kopf mit einem Stein zertrümmert.

Würden Sie sagen, dass Sie die Wahrheit kennen?
Ja. Man kann sie anhand des Filmmaterials rekonstruieren. Die letzten vier Jahre bin ich durch Europa gereist und habe davon erzählt. Manchmal war das Problem, dass die Leute mir nicht glaubten, weil sie meinten, ich sei ein verzweifelter Vater und daher befangen. Jetzt rede ich weniger und zeige dafür den Film. Die Bilder sind stärker als die Worte.

Sie haben erreicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Ermittlungen auf europäischer Ebene wieder aufgenommen hat. Ist Ihr Ziel, dass der Mann, der Ihren Sohn erschossen hat, zur Rechenschaft gezogen wird?
Es geht darum, dass überhaupt ein Prozess eröffnet wird. Dabei interessiert mich nicht an erster Stelle, dass jemand verurteilt wird, sondern es geht um die Wahrheit für mich und meine Frau. Auch für meine Tochter und Freunde. Ich muss sie ans Licht bringen, weil sonst die Straffreiheit für die, die nicht ihre Pflicht tun - in diesem Fall die Polizisten, die Carabinieri und alle politisch Verantwortlichen -, fortbesteht und das hat nichts mit Demokratie zu tun. Sie müssen in Verantwortung genommen und daran erinnert werden, was sie machen dürfen.
Direkt nach Carlos Tod gab es eine Untersuchungskommission, die aber keine Vollmachten hatte. Hat jemand etwas Falsches erzählt, blieb das ohne Folgen. Wir wollen einen richtigen parlamentarischen Ermittlungsausschuss, bei dem eine Falschaussage auch geahndet wird.

Das war doch eigentlich ein Wahlversprechen des seit April dieses Jahres regierenden Mitte-Links-Bündnisses?
Es steht sogar in ihrem Wahlprogramm und ich glaube, dass sie das wahrmachen, auch wenn bis jetzt noch nichts passiert ist. Jetzt ist ja noch nicht einmal ein halbes Jahr vergangen.

Sie hoffen, dass die neue Regierung weniger befangen ist?
Selbst der jetzige Außenminister d`Alema vergleicht die Übergriffe mit »chilenischen Verhältnissen«. Und der Innenminister Amato sagte: »Man muss Klarheit schaffen«.
Der staatliche Fernsehsender RAI hat dieses Jahr am 18. Juli eine Dokumentation gezeigt, die meiner Meinung nach der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Das ist ein Zeichen, ein Anfang. Man muss in den Medien nicht die Rechten durch die Linken, sondern durch unabhängige Journalisten ersetzen.

Wie können Sie weiterleben, so lange Sie jeden Tag sich und anderen den Tod Ihres Sohnes in Erinnerung rufen?
Ich würde es mit den Worten meiner Frau sagen: Für uns hat ein zweites Leben begonnen. Meine Frau und ich haben ein Netz von Familien und Vereinen aufgebaut, die von ähnlichen Fällen betroffen sind. Es heißt »reti meno invisibili« - »Weniger unsichtbar«.
Carlo ist angeblich seit 24 Jahren der erste von Sicherheitskräften getötete Demonstrant. Das ist aber nur die offizielle Version, tatsächlich gibt es viele andere ungeklärte Fälle, die vor und nach dem Tod von Carlo passiert sind. Am 23. September fahren wir nach Ferrara, wo vor einem Jahr ein 18-jähriger Junge, der nichts gemacht hat, als ein Bier zuviel zu trinken, auf offener Straße von einem Polizisten erschossen wurde. Auch hier gibt es keinen Prozess. In Como hat Anfang dieses Jahres eine bewaffnete Gruppe von der Lega Nord einen Sprayer angeschossen. Ein anderes Mal sind vier Zeugen zufällig alle nacheinander ums Leben gekommen.
In Italien wird das alles zugedeckt. Seit 59 Jahren passiert immer wieder so etwas: 450 Menschen, die auf verschiedenste Weise zu Tode gekommen sind und wo die Umstände nie aufgeklärt wurden. Von keinem gibt es so viele Aufnahmen wie von Carlo. Deshalb hat dieser Fall eine so große Bedeutung für die anderen. Er könnte zu einem Präzedenzfall werden.

Ihr Film zeigt die letzten Minuten im Lebens Ihres Sohnes. Wie Carlo zu Boden fällt, überfahren wird, Blut aus seinem Kopf sprudelt. Wie können Sie ertragen, diese Szene immer und immer wieder zu sehen?
Das Ansehen ändert nichts. Es ist ohnehin immer im Kopf. Ich sehe den Film immer wieder, aber während ich ihn sehe, sehen ihn auch andere Menschen. Und je mehr ihn sehen, umso mehr fragen nach der Wahrheit.

Informationen zum Bezug der DVD: Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei.PDS, Bereich Internationales. Der Film wird in Kürze auf www.piazzacarlogiuliani.org zu finden sein.
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