23.000 Glockenschläge für ertrunkene Flüchtlinge

Erzbistum Köln erinnert an die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer gestorbene Refugees / Weltweit sind etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht

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Berlin. Die mächtigste Glocke des Kölner Doms hat am Freitagabend ein außergewöhnliches Totengedenken für im Mittelmeer ums Leben gekommene Flüchtlinge eingeläutet: Die »Dicker Pitter« genannte Glocke machte nach Angaben des Erzbistums Köln den Auftakt zu einem Totengeläut mit insgesamt 23.000 Glockenschlägen in 230 Kirchen des größten deutschen Bistums. Damit erinnerte jeder Glockenschlag an einen Toten - seit dem Jahr 2000 kamen laut Erzbistum über 23.000 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer um.

Das bistumsweite Glockengeläut sollte einen Weckruf für Gesellschaft und Politik darstellen. »Wir läuten für eine Globalisierung der Nächstenliebe«, erläuterte der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki im Vorfeld das Anliegen der ungewöhnlichen Aktion, die von einer ökumenische Gedenkfeier am Kölner Dom begleitet wurde. »Es ist an der Zeit, dass wir alle etwas dafür tun.«

Kölns Erzbischof fügte hinzu: »Würde eine Glocke alle zwei Sekunden erklingen, bräuchte sie für die 23.000 Schläge zwölf Stunden – jeder Schlag in dieser Zeit steht für einen Toten: Kinder, Väter und Großmütter.« Die Totenglocken sollten »eine europäische Flüchtlingspolitik einfordern, die einen legalen Weg für Flüchtlinge nach Europa schafft«.

Der »Dicke Pitter«, die größte schwingende Glocke der Welt, wird traditionell nur zu besonderen Anlässen und an hohen kirchlichen Feiertagen geläutet.

Menschenrechtsbeauftragte verweist auf »vergessene Krisen«

Derweil at anlässlich des Weltflüchtlingstags der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD), mehr Aufmerksamkeit für Krisen am Rande des medialen Interesses verlangt. »Nahezu täglich erreichen uns neue Schreckensmeldungen über Flüchtlingsströme aus Syrien und Irak, wo die Menschen versuchen, ihr Leben und das ihrer Nächsten vor der alltäglichen Gewalt zu retten«, erklärte Strässer am Samstag. Daneben gebe es aber auch Missstände in »einer Vielzahl anderer Regionen«, die mitunter als »vergessene Krisen« bezeichnet würden.

Als Beispiele nannte Strässer Afghanistan, Somalia, den Sudan, den Südsudan, die Demokratische Republik Kongo und Myanmar. Dort seien »Menschen gezwungen, aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen, gravierenden Menschenrechtsverletzungen oder Folgen des Klimawandels ihre Heimat zu verlassen und den größten Teil ihrer Habe aufzugeben«.

Weltweit befinden sich nach Angaben der Vereinten Nationen etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder. Mehr als 400 Millionen Euro seien im vergangenen Jahr vom Auswärtigen Amt für humanitäre Hilfe im Ausland bereitgestellt worden, erklärte Strässer. Ein großer Teil davon komme Menschen auf der Flucht zugute.

Nach Angaben von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) stellte Deutschland in den vergangenen 18 Monaten allein rund 650 Millionen Euro für Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak zur Verfügung. Die Hilfen seien in 150 Soforthilfeprojekte geflossen, vor allem nach Jordanien und in den Libanon, sagte Müller der »Mittelbayerischen Zeitung« aus Regensburg.

Rechte Forderungen nach einem Aufnahmestopp für Flüchtlinge nannte der Minister »dumpfes, unverantwortliches Geschrei«. Wer jemals Flüchtlingslager im Libanon oder in Jordanien gesehen habe, werde solche »dummen Sprüche niemals machen«, sagte er, zeigte zugleich aber auch Verständnis für Sorgen über die Aufnahmekapazitäten in deutschen Kommunen.

Kritik an Zentrum für politische Schönheit

Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), kritisierte eine geplante Aktion einer Künstlergruppe mit exhumierten Leichen im Mittelmeer ertrunkener Flüchtlinge vor dem Bundeskanzleramt. Sie habe zwar »Verständnis für die Wut der Aktivisten«, sagte sie der Zeitung »Die Welt« aus Berlin. »Ein Spektakel mit Leichen« überschreite aber »eine moralische Grenze«. Aktivisten des sogenannten Zentrums für politische Schönheit wollen am Sonntag vor dem Kanzleramt eine Gedenkstätte für unbekannte Einwanderer errichten. Vorher soll ein sogenannter Marsch der Entschlossenen stattfinden, dabei wollen die Aktivisten angeblich exhumierte Flüchtlingsleichen mitnehmen. Die Aktion soll auf das Schicksal ertrunkener Flüchtlinge aufmerksam machen.

Die Bundeswehr teilte am späten Freitag mit, im Mittelmeer erneut 90 Flüchtlinge gerettet zu haben. Die Fregatte »Schleswig-Holstein« habe die 84 Männer, vier Frauen und zwei Kinder gut hundert Kilometer vor der libyschen Küste aus einem Schlauchboot geborgen. Das Boot wurde demnach zerstört. Bei ihrem Einsatz rettete die Bundeswehr in den vergangenen Wochen bereits mehr als 4000 Menschen. Agenturen/nd

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