Wo Budjonnys Mütze am Strauch hängt

In einem Ascherslebener Garten werden Hunderte seltene Tomatensorten angebaut - für einen sozialen Zweck

  • Hendrik Lasch, Aschersleben
  • Lesedauer: 4 Min.
Tomate ist nicht gleich Tomate. 200 verschiedene Sorten gedeihen in einem Tafelgarten in Aschersleben (Sachen-Anhalt). So werden alte und lokale Sorten erhalten. Nutznießer sind auch sozial Bedürftige.

Das »Venusbrüstchen« rötet sich dezent. Die herzförmige Tomate mit dem anzüglichen Namen drängt sich aber nicht in den Vordergrund. Sie gedeiht in einer hinteren der zwölf Pflanzenreihen in einem Kleingarten der Sparte »Froser Straße« in Aschersleben, der vom Tor bis zum hinteren Zaun voller Tomaten steht. In vorderster Front glänzen fleischige Früchte der Sorte »Budjenowka«, die an die Mützen der Reiter des sowjetischen Marschalls Budjonny erinnern. Das fahle »Ei von Phuket« dagegen macht mangelnde Größe durch Vielzahl wett: In dicken Trauben hängen die Tomaten, die nach einem Badeort in Thailand benannt sind, in der Sonne.

Zu den Lieblingen von Gisela Ewe gehört keine der drei Tomatensorten. Sie bevorzugt süße, kleine Früchte wie »Sungold Orange«: »Das intensive Aroma ist dort besonders geballt.« Dennoch will sie sich beim Tomatenanbau nicht auf wenige Favoriten festlegen. Während in umliegenden Gärten seit Jahren nur »Harzfeuer« ins Beet kommt, schwelgt Ewe in Vielfalt. 200 Sorten Tomaten gedeihen derzeit unter ihrer Obhut; voriges Jahr waren es gar 348: »So viele verschiedene Tomaten wachsen in keinem anderen Garten in Sachsen-Anhalt.«

Die Liebe zu den Tomaten hat Gisela Ewe spät entdeckt - obwohl sie einst Landwirtschaft studiert hat und ihr Vater ein Gemüsegeschäft führte. Sie arbeitete beim Kulturbund und einer Gewerkschaft, später handelte sie mit Medizintechnik. Hinter dem Haus wuchsen eher Blumen und Stauden, Gurken und Obstbäume. Erst bei einem Besuch im Institut für Pflanzengenetik in Gatersleben vor einigen Jahren staunte sie über den Variantenreichtum der Frucht, die mancherorts auch als Paradiesapfel bezeichnet wird. Zurück in Aschersleben, begann sie ein Paradies für das oft süße Gemüse zu schaffen. Aus Samen zog sie erst zehn, dann 56 Sorten, verpflichtete sich im Scherz, die Zahl 100 zu übertreffen - und brachte es als »Tomatenkönigin von Aschersleben« seither zu einiger Bekanntheit im Regionalfernsehen. Dazu mag beitragen, dass Ewe dem Tomatenfieber nicht nur in privater Leidenschaft frönt. Die Pflanzen wachsen in fünf Tafelgärten, also nicht verpachteten Parzellen im Gartenverein, die von Langzeitarbeitslosen bestellt werden und deren Erträge zum Teil an der Tafel, die in Aschersleben »Speisekammer« heißt, an sozial Bedürftige abgegeben werden.

Ein weiterer Teil der Ernte wird in der Kantine eines örtlichen Sozialunternehmens verarbeitet. Einige der Produkte können auch beim jährlichen »Tomatentag« in der Anlage verkostet werden, der diesmal am 20. August stattfindet. 200 Besucher, sagt Ewe, kommen zumeist. Dabei geknüpfte Kontakte haben dazu beigetragen, dass der Ascherslebener Tomatengarten auch einen nennenswerten Beitrag zum Erhalt regionaler Sorten leistet. Dazu gehören nicht nur in der DDR professionell gezüchtete Sorten wie die »Eislebener Vollendung« oder »Bodeglut«. Auf den Beeten gedeiht auch »Rosis Tomate«, eine Sorte unklarer Herkunft, die ein Züchter im Garten seiner Tante Rosi entdeckte, erklärt Kevin Grimm. Er gilt in Aschersleben als »Tomatenprinz«, weil er der engagierteste Helfer der von einer Krankheit beeinträchtigten Tomatengärtnerin ist.

Eine andere Sorte hat den Arbeitstitel »Bördetomate« erhalten. Sie sei von einem Hobbyzüchter in der Region in Sachsen-Anhalt hervorgebracht worden: »In seinem Dorf wird sie von allen angebaut; außerhalb ist sie nahezu unbekannt«, sagt Grimm.

Dieses Schicksal teilt sie mit vielen anderen Sorten. Kein Wunder: Insgesamt gebe es »10 000 oder noch mehr Varianten«, sagt Ewe. Das Spektrum reicht von der winzigen Johannisbeer- bis zur Ananastomate mit Früchten von über einem Kilogramm Gewicht. Diese Vielfalt an Formen, Düften und Geschmäckern will sie vor allem bekannt machen: »Die Leute sollen sehen, das es nicht nur die Einheitsfrucht mit der harten Schale und dem wässrigen Geschmack gibt, die im Supermarktregal liegt«, sagt Ewe. Dafür pult sie im März Samen aus kleinen Tüten, zieht die Pflanzen vor, entlässt sie im Frühjahr ins Freie und hegt sie bis zur Ernte: wässern, anbinden, mit Pferdemist düngen, ausgeizen.

Wobei: Mit dem Entfernen vermeintlich wilder Triebe nimmt es die »Tomatenkönigin« nicht so genau. »Ich bin weniger streng als die meisten Kleingärtner«, sagt sie. Dem Ertrag scheint das keinen Abbruch zu tun. Die Pflanzen im »Tomatengarten« tragen reichlich, und zum kräftigen Erröten kommt dieser Tage nicht nur das »Venusbrüstchen«.

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