Die Zahlen eines Angezählten

Ein Fernsehbericht zeigt, wie mit absurden Schätzungen Stimmung in der Flüchtlingsdebatte gemacht wird

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.
Wo sind die angeblich gefälschten syrischen Pässe, die zu den »gefälschten Syrern« gehören? Thomas de Maiziere macht mit Schätzungen Stimmung. Doch Experten halten die Sache für weit übertrieben, wie nun ein Fernsehbericht zeigt.

In der aktuellen Flüchtlingsdebatte spielen Zahlen eine große Rolle. Wie viele Menschen kommen noch, wie viele sind schon hier? Im besten Falle geht es dabei um Schätzungen – im schlechteren Sinn und damit sind wir in der politischen Sphäre, soll damit Stimmung gemacht werden. Was kostet das alles? Und was sind die Absichten von diesen 300.000, später 800.000 und jetzt schon auf 1,5 Millionen Menschen geschätzten Menschen, die 2015 nach Deutschland kommen?

Die Überforderung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière, die sich erst in viel zu niedrigen Schätzungen zeigte, später zu populistischen Sprüchen à la »Die haben so viel Geld, dass sie mit dem Taxi durch Deutschland fahren!« führte und zum Schluss in der Ernennung des Themas als Chefsache durch die Kanzlerin gipfelte, zeigt sich auch an einem Beispiel, das die Kollegen von »Panorama« recherchiert haben.

Am 2. Oktober sagte der schon angezählte de Maizière nach einem Treffen im Bundeskriminalamt in Wiesbaden, dass sich nach Schätzungen mindestens 30 Prozent der Neuankömmlinge fälschlicherweise als Syrer ausgegeben hätten. Das wären mehr als 100.000. Einhunderttausend. Schon vorher hatte sein Amtskollege in Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU), verlauten lassen: »Mindestens ein Viertel der angeblich aus Syrien kommenden Flüchtlinge stammt nicht aus Syrien, sondern aus anderen arabischen oder afrikanischen Ländern.«

Die Logik hinter den Zahlen: Da nutzen angeblich viele Menschen aus, dass Deutschland Menschen nicht in das Kriegsgebiet Syrien zurückschickt. Nur, um sich »fälschlicherweise als Syrer auszugeben«, bräuchte man doch in den meisten Fällen einen Nachweis, um sich als ebenjener auszugeben – einen Pass beispielsweise. Und gefälschte Pässe müssten doch zu erkennen oder zumindest zu finden sein.

Die »Panorama«-Redaktion fragte also beim Bundesinnenministerium nach. Die Antwort des Ministeriums: Die Schätzungen gehen auf Angaben der Bundespolizei, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex zurück. Statistiken werden aber bei den ersten beiden Institutionen gar nicht geführt – es gibt nur Indikatoren. So hat das BAMF laut Panorama im Jahr 2015 116 falsche syrische Pässe »beanstandet«. Einhundertsechszehn. Und Frontex? Hat 170 falsche Pässe gezählt. 80 Prozent der Inhaber letzterer Pässe waren übrigens – Syrer. Viele von ihnen besitzen nämlich regulär keinen und könnten ihn im Moment auch nicht beantragen.

Dass die »Panorama«-Kollegen später noch beschreiben (ARD, Donnerstag 21.45 Uhr), dass auch Mitarbeiter von Flüchtlingsunterkünften oder sonst mit der Thematik beschäftigte Menschen die 30-Prozent-Schätzung wahlweise für übertrieben oder »hanebüchen« halten, zählt dann kaum noch. Auf »Panorama«-Nachfrage hält das Innenministerium die 30 Prozent schlussendlich sogar noch für untertrieben. Die Schätzungen sind in der Welt und zum eigenen Weltbild dazugezählt.

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